
Die inzwischen 72-jährige Nan Goldin kann eigentlich nicht fotografieren – jedenfalls nicht im landläufigen Sinne. Bildaufbau, Komposition, Beleuchtung und Schärfe sind für sie erkennbar unwichtig. Sie hält einfach drauf; den meisten Fotos sieht man deutlich an, dass sie quasi aus der Hüfte geschossen wurden. Darunter sind gelegentlich auch handwerklich geglückte Aufnahmen, was ihr aber ebenfalls egal zu sein scheint: Die Mehrzahl der Bilder in ihren Dia-Serien würde jeder andere Fotograf wohl als missraten aussortieren.
Info
Nan Goldin – This Will Not End Well
23.11.2024 - 06.04.2025
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
in der Neuen Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, Berlin
Katalog 48 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Bizarres Authentizitäts-Argument
Doch die vielen Fans von Nan Goldin preisen ihre Aufnahmen aus einem anderen Grund: Sie seien so authentisch, weil ihre Schöpferin selbst den abgelichteten Milieus angehörte. Dieses Argument mutet bizarr an: Als würden Porträts von Adligen oder Junkies wahrhaftiger, wenn ihre Fotografen selbst blaublütig wären oder an der Nadel hingen. Doch im Fall von Nan Goldin zieht es – warum, zeigt ihre große Werkschau „This Will Not End Well“ in der Neuen Nationalgalerie, die zuvor in Stockholm und Amsterdam gastierte.
Feature über den Ausstellungs-Katalog mit Statements von Nan Goldin. © Steidl Verlag
Eher Elendsporno als Underground-Chronik
Sie besteht aus sechs mit schwarzem Stoff verkleideten Pavillons. In fünfen ist je eine Dia-Reihe zu sehen; im sechsten ein Potpourri mit kurzen Ausschnitten aus Goldins Lieblingsfilmen. Die fünf Dia-Serien sind sattsam geläufig, weil sie damit schon seit Dekaden durch die Kunstwelt tourt. Angefangen mit „The Ballad of Sexual Dependency“ („Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“, 1978-86); der Titel, den Goldin der „Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht entnommen hat, ist das beste daran. Die Macht der Erotik und die Erotik der Macht: Das schürt aufregende Erwartungen.
Welche die Aufnahmen – eine veränderliche Auswahl aus rund 800 Dias – nicht erfüllen: Zu sehen sind lauter Leute, häufig dieselben, die in schäbigen Interieurs herumhängen oder -albern, Party machen oder sonstwie ungesundem Lebenswandel frönen. Der Zeitgeist der New- und No-Wave-Ära um 1980 ist der No-Future– und Leck-mich-Attitüde dieser Gestalten kaum anzusehen; die Bilderfolge ist weniger Underground-Chronik denn Elendsporno voller Spuren von häuslicher Gewalt, Drogen-Exzessen und der AIDS-Epidemie.
Letzte Blütezeit von sex&drugs&rock’n’roll
Dennoch gründet Goldins vielfach preisgekrönter Ruhm vor allem auf dieser Fotoserie. Bis heute: als bebildere sie eine kollektive Wunschvorstellung vom wilden und gefährlichen Leben für alle, die damals nicht dabei waren. Eine letzte Blütezeit des sorglosen Daseins mit sex&drugs&rock’n’roll, das man sich in unserer durchökonomisiert-domestizierten Gegenwart kaum noch vorstellen kann. Jedenfalls fallen dagegen alle weiteren Langzeit-Beobachtungen im überschaubarem Œuvre der Künstlerin stark ab.
„The Other Side“ (1992-2021) ist eine Parade mehr oder weniger attraktiver Trans-Personen, bei denen Goldin zeitweise gelebt hat; der zelebrierte Drag-Queen-Glamour wirkt mittlerweile recht angestaubt. „Fire Leap“, eine Serie über Kinder, besticht durch Banalität: Herumtollende Gören erfreuen alle Elternaugen.
Schillernder Drogen-Reiz + -Gefahr
„Sisters, Saints and Sibyls“ (2004-2022) wird aufwändig als Drei-Kanal-Videoprojektion inszeniert. Den traurigen Werdegang ihrer älteren Schwester Barbara, die von ihren gefühlskalten Eltern in die Psychiatrie abgeschoben wurde und 1964 Selbstmord beging, hat Goldin bereits 2022 in dem ihr gewidmeten Doku-Porträt „All the Beauty and the Bloodshed“ von Regisseurin Laura Poitras ausführlich erzählt. Fade Außen- und Innen-Ansichten werden auf drei Leinwänden zugleich nicht ansehnlicher.
Am ehesten bietet „Memory Lost“ (2019-2021) ästhetischen und Erkenntnis-Mehrwert. 2014 wurde Goldin von Schmerzmitteln abhängig; nach ihrem Entzug startete sie vier Jahre später Proteste gegen das „Purdue Pharma“-Unternehmen der Sackler-Familie, das maßgeblich die Opioid-Krise in den USA ausgelöst hatte. Auch diese Kampagne wurde bereits in Poitras‘ Doku umfassend dargestellt. Doch in der Diaserie zum Thema gelingen der Fotografin Bilder, die den verführerischen Reiz und die mörderische Gefahr von Drogenkonsum vieldeutig schillernd veranschaulichen.
Kalkulierter Antisemitismus-Skandal
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "All the Beauty and the Bloodshed" – Doku-Porträt von Nan Goldin als Anti-Pharma-Aktivistin von Laura Poitras, prämiert mit dem Goldenen Löwen 2022
und hier eine Besprechung des Films "Blank City" – facettenreiche Doku über die No-Wave-Szene im New York der späten 1970er Jahre von Céline Danhier
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Geniale Dilletanten: Subkultur der 1980er Jahre in Deutschland" – prägnante Überblicks-Schau in München, Hamburg + Dresden
und hier einen Bericht über den Film "Don't blink – Robert Frank" – facettenreiche Doku über den US-Fotografen und Erfinder der "Schnappschuss-Ästhetik" von Laura Israel.
Dass eine linke US-Jüdin den israelischen Rechtsaußen-Premier Benjamin Netanjahu irgendwo zwischen Timo Chrupalla und Wladimir Putin verortet und sein Tun mit groben Worten geißelt, ist frommen Feuilleton-Seelen unbegreiflich. Den Aufmerksamkeit erregenden Skandal fachte Goldin nach Kräften an. Etwa mit einem Diapositiv, das „Solidarität mit Gaza-Opfern“ verkündete: Tagelang wurde gerungen, ob sie es nachträglich in die Schau integrieren dürfe oder nicht. Sie durfte: Wer es mit der US-Pharma-Lobby aufnimmt, kann der deutschen Kultur-Bürokratie allemal Paroli bieten.
Nach Warhol + Goldin kommt Yoko Ono
Zu solchen Schaukämpfen gehören immer zwei: Klaus Biesenbach ist ein ebenbürtiger Mit- und Gegenspieler. Nach der Gründung der Berliner Kunst-Werke (1991) und der Berlin-Biennale (1998) hatte er hochrangige Positionen in New York und Los Angeles inne. 2022 übernahm er die Leitung der Neuen Nationalgalerie; seither will er offenbar den Zulauf mit Blockbuster-Ausstellungen von Gegenwartskunst-Popstars mit Rotlicht-Appeal maximieren.
Im vergangenen Jahr breitete Biesenbach explizit schwule Grafik von Andy Warhol aus, jetzt Nan Goldins Fotos – obwohl sie erst 2023 in der Akademie der Künste präsentiert wurden. Im April folgt eine große Retrospektive von Yoko Ono unter dem Titel „Dream Together“; man darf gespannt sein, welche schlüpfrigen Aspekte er aus dem angegilbten Werk der Fluxus-Künstlerin herauskitzeln wird.