Berlin

Nan Goldin – This Will Not End Well

Nan Goldin: C als Madonna im Umkleideraum, Bangkok, 1992, Photographie, aus der Serie “The Other Side” . © Nan Goldin. Courtesy the artist. Fotoquelle: SMB
Die US-Fotografin Nan Goldin ist ein Genie: Niemand anderem ist es gelungen, trotz offenkundiger handwerklicher Unbedarftheit so viel Aufmerksamkeit und Ruhm einzuheimsen. Das Geheimnis ihres Erfolgs enthüllt eine große Werkschau in der Neuen Nationalgalerie – sie bebildert kollektive Ausschweifungs-Fantasien.

Die inzwischen 72-jährige Nan Goldin kann eigentlich nicht fotografieren – jedenfalls nicht im landläufigen Sinne. Bildaufbau, Komposition, Beleuchtung und Schärfe sind für sie erkennbar unwichtig. Sie hält einfach drauf; den meisten Fotos sieht man deutlich an, dass sie quasi aus der Hüfte geschossen wurden. Darunter sind gelegentlich auch handwerklich geglückte Aufnahmen, was ihr aber ebenfalls egal zu sein scheint: Die Mehrzahl der Bilder in ihren Dia-Serien würde jeder andere Fotograf wohl als missraten aussortieren.

 

Info

 

Nan Goldin – This Will Not End Well

 

23.11.2024 - 06.04.2025

 

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 20 Uhr

in der Neuen Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, Berlin

 

Katalog 48 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Nun ist die Ästhetik des Dilettantischen und Zufälligen schon vor Jahrzehnten aufgewertet worden, auch von renommierten Fotografen wie Robert Frank oder Lee Friedlander. In den 1990er Jahren kam „Lomographie“ in Mode; ihre Adepten knipsten Beiläufiges mit minderwertigen sowjetischen Kompaktkameras. Heute fluten Smartphone-Fotos die Sozialen Medien: Neben digital aufgehübschten Hochglanz-Bildern dominieren Amateur-Schnappschüsse, bei denen es kaum auf optische Qualität ankommt.

 

Bizarres Authentizitäts-Argument

 

Doch die vielen Fans von Nan Goldin preisen ihre Aufnahmen aus einem anderen Grund: Sie seien so authentisch, weil ihre Schöpferin selbst den abgelichteten Milieus angehörte. Dieses Argument mutet bizarr an: Als würden Porträts von Adligen oder Junkies wahrhaftiger, wenn ihre Fotografen selbst blaublütig wären oder an der Nadel hingen. Doch im Fall von Nan Goldin zieht es – warum, zeigt ihre große Werkschau „This Will Not End Well“ in der Neuen Nationalgalerie, die zuvor in Stockholm und Amsterdam gastierte.

Feature über den Ausstellungs-Katalog mit Statements von Nan Goldin. © Steidl Verlag


 

Eher Elendsporno als Underground-Chronik

 

Sie besteht aus sechs mit schwarzem Stoff verkleideten Pavillons. In fünfen ist je eine Dia-Reihe zu sehen; im sechsten ein Potpourri mit kurzen Ausschnitten aus Goldins Lieblingsfilmen. Die fünf Dia-Serien sind sattsam geläufig, weil sie damit schon seit Dekaden durch die Kunstwelt tourt. Angefangen mit „The Ballad of Sexual Dependency“ („Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“, 1978-86); der Titel, den Goldin der „Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht entnommen hat, ist das beste daran. Die Macht der Erotik und die Erotik der Macht: Das schürt aufregende Erwartungen.

 

Welche die Aufnahmen – eine veränderliche Auswahl aus rund 800 Dias – nicht erfüllen: Zu sehen sind lauter Leute, häufig dieselben, die in schäbigen Interieurs herumhängen oder -albern, Party machen oder sonstwie ungesundem Lebenswandel frönen. Der Zeitgeist der New- und No-Wave-Ära um 1980 ist der No-Future– und Leck-mich-Attitüde dieser Gestalten kaum anzusehen; die Bilderfolge ist weniger Underground-Chronik denn Elendsporno voller Spuren von häuslicher Gewalt, Drogen-Exzessen und der AIDS-Epidemie.

 

Letzte Blütezeit von sex&drugs&rock’n’roll

 

Dennoch gründet Goldins vielfach preisgekrönter Ruhm vor allem auf dieser Fotoserie. Bis heute: als bebildere sie eine kollektive Wunschvorstellung vom wilden und gefährlichen Leben für alle, die damals nicht dabei waren. Eine letzte Blütezeit des sorglosen Daseins mit sex&drugs&rock’n’roll, das man sich in unserer durchökonomisiert-domestizierten Gegenwart kaum noch vorstellen kann. Jedenfalls fallen dagegen alle weiteren Langzeit-Beobachtungen im überschaubarem Œuvre der Künstlerin stark ab.

 

„The Other Side“ (1992-2021) ist eine Parade mehr oder weniger attraktiver Trans-Personen, bei denen Goldin zeitweise gelebt hat; der zelebrierte Drag-Queen-Glamour wirkt mittlerweile recht angestaubt. „Fire Leap“, eine Serie über Kinder, besticht durch Banalität: Herumtollende Gören erfreuen alle Elternaugen.

 

Schillernder Drogen-Reiz + -Gefahr

 

„Sisters, Saints and Sibyls“ (2004-2022) wird aufwändig als Drei-Kanal-Videoprojektion inszeniert. Den traurigen Werdegang ihrer älteren Schwester Barbara, die von ihren gefühlskalten Eltern in die Psychiatrie abgeschoben wurde und 1964 Selbstmord beging, hat Goldin bereits 2022 in dem ihr gewidmeten Doku-Porträt „All the Beauty and the Bloodshed“ von Regisseurin Laura Poitras ausführlich erzählt. Fade Außen- und Innen-Ansichten werden auf drei Leinwänden zugleich nicht ansehnlicher.

 

Am ehesten bietet „Memory Lost“ (2019-2021) ästhetischen und Erkenntnis-Mehrwert. 2014 wurde Goldin von Schmerzmitteln abhängig; nach ihrem Entzug startete sie vier Jahre später Proteste gegen das „Purdue Pharma“-Unternehmen der Sackler-Familie, das maßgeblich die Opioid-Krise in den USA ausgelöst hatte. Auch diese Kampagne wurde bereits in Poitras‘ Doku umfassend dargestellt. Doch in der Diaserie zum Thema gelingen der Fotografin Bilder, die den verführerischen Reiz und die mörderische Gefahr von Drogenkonsum vieldeutig schillernd veranschaulichen.

 

Kalkulierter Antisemitismus-Skandal

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "All the Beauty and the Bloodshed" – Doku-Porträt von Nan Goldin als Anti-Pharma-Aktivistin von Laura Poitras, prämiert mit dem Goldenen Löwen 2022

 

und hier eine Besprechung des Films "Blank City" facettenreiche Doku über die No-Wave-Szene im New York der späten 1970er Jahre von Céline Danhier

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Geniale Dilletanten: Subkultur der 1980er Jahre in Deutschland" prägnante Überblicks-Schau in München, Hamburg + Dresden

 

und hier einen Bericht über den Film "Don't blink Robert Frank" – facettenreiche Doku über den US-Fotografen und Erfinder der "Schnappschuss-Ästhetik" von Laura Israel.

 

Das allein lockt aber keine Massen an. Als gewiefte Aktivistin weiß Goldin, wie man öffentlichkeitswirksam auf den Putz haut. Bei der Eröffnung der Berliner Ausstellung wetterte sie gegen Israels Kriegsführung im Gaza-Streifen, die einem „Völkermord“ gleichkomme. Die Erwiderung von Nationalgalerie-Direktor Klaus Biesenbach wurde von Goldins Unterstützern ausgebuht. Und die hiesigen Medien sprangen sofort auf den vermeintlichen Antisemitismus-Skandal an.

 

Dass eine linke US-Jüdin den israelischen Rechtsaußen-Premier Benjamin Netanjahu irgendwo zwischen Timo Chrupalla und Wladimir Putin verortet und sein Tun mit groben Worten geißelt, ist frommen Feuilleton-Seelen unbegreiflich. Den Aufmerksamkeit erregenden Skandal fachte Goldin nach Kräften an. Etwa mit einem Diapositiv, das „Solidarität mit Gaza-Opfern“ verkündete: Tagelang wurde gerungen, ob sie es nachträglich in die Schau integrieren dürfe oder nicht. Sie durfte: Wer es mit der US-Pharma-Lobby aufnimmt, kann der deutschen Kultur-Bürokratie allemal Paroli bieten.

 

Nach Warhol + Goldin kommt Yoko Ono

 

Zu solchen Schaukämpfen gehören immer zwei: Klaus Biesenbach ist ein ebenbürtiger Mit- und Gegenspieler. Nach der Gründung der Berliner Kunst-Werke (1991) und der Berlin-Biennale (1998) hatte er hochrangige Positionen in New York und Los Angeles inne. 2022 übernahm er die Leitung der Neuen Nationalgalerie; seither will er offenbar den Zulauf mit Blockbuster-Ausstellungen von Gegenwartskunst-Popstars mit Rotlicht-Appeal maximieren.

 

Im vergangenen Jahr breitete Biesenbach explizit schwule Grafik von Andy Warhol aus, jetzt Nan Goldins Fotos – obwohl sie erst 2023 in der Akademie der Künste präsentiert wurden. Im April folgt eine große Retrospektive von Yoko Ono unter dem Titel „Dream Together“; man darf gespannt sein, welche schlüpfrigen Aspekte er aus dem angegilbten Werk der Fluxus-Künstlerin herauskitzeln wird.