
Es gab eine Zeit, in der Theaterkritiker über Wohl und Wehe ganzer Produktionen und Karrieren entscheiden konnten. Wenn sie für auflagenstarke Zeitungen arbeiteten, gab ihre Deutungshoheit ihnen beträchtliche Macht. Ein Nachhall davon begleitete den Skandal an der Hannoveraner Staatsoper vor zwei Jahren: Deren damaliger Ballettchef attackierte eine Kritikerin mit einer Tüte voller Hundekot.
Info
The Critic
Regie: Anand Tucker,
101 Min., Großbritannien/ USA 2023;
mit: Ian McKellen, Gemma Arterton, Mark Strong
Weitere Informationen zum Film
Hauskritiker wird gefeuert
Was den ausmacht, bestimmt er natürlich selbst; darüber breitet er seine Ansichten regelmäßig in pointierten Texten voller geschliffener Formulierungen aus. Doch dann stirbt sein langjähriger Verleger Brooke; als dessen Sohn die Leitung der Zeitung übernimmt, bröckelt die Unangreifbarkeit des Kritikers. David Brooke (Mark Strong) will sein Blatt massentauglicher machen und bittet Erskine darum, milder zu urteilen. Als dieser dem nicht nachkommt, wird er gefeuert. Diese Ungeheuerlichkeit kann der alte Herr keineswegs auf sich sitzen lassen.
Offizieller Filmtrailer OmU
Rachepakt mit Schauspielerin
Da er sich für unersetzlich hält, schmiedet er ein ausgeklügeltes Komplott, um die ihm gebührende Stellung wiederzuerlangen. Als Werkzeug seiner Rache wählt er ausgerechnet die Schauspielerin Nina Land (Gemma Arterton) aus, die er bislang in seinen Kritiken ohne besonderen Anlass immer wieder verspottet hat. Als sie ihn deswegen zur Rede stellen will, entdeckt sie zufällig Erskines Achillesferse: seinen unkonventionellen Lebensstil mit dem jungen „Assistenten“ Tom Turner (Alfred Enoch), der mit ihm unter einem Dach wohnt.
In den 1930er Jahren ist Homosexualität in Großbritannien ein Verbrechen; Ninas will daher ihr Wissen als Druckmittel zu ihren Gunsten nutzen. So schließen beide einen Pakt: Erskine sagt zu, Nina zum Star zu machen. Im Gegenzug soll sie ihm bei der Rache an seinem neuen Verleger helfen – wenn es sein muss, auch mit vollem Körpereinsatz. Zunächst läuft alles nach Plan; jedoch hat Jimmy nicht die Unwägbarkeiten des menschlichen Faktors mit einkalkuliert.
Libertin gegen Konservativen
Auf den ersten Blick erscheint der Film von Anand Tucker als wunderschön und detailreich ausgestatteter Historienfilm aus der großen Ära des Zeitungswesens. Die Kamera schwelgt in perfekt ausgeleuchteten Interieurs, prächtige Kostüme lassen Sehnsucht nach der Art-Déco-Eleganz der Epoche aufkommen. Als Vorlage diente Drehbuchautor Patrick Marber der Roman „Curtain Call“ von Anthony Quinn (nicht verwandt oder gar identisch mit dem Schauspieler).
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Good Liar – Das alte Böse" – schwarzhumoriger Thriller von Bill Condon mit Ian McKellen
und hier eine Besprechung des Films "Mr. Holmes" – virtuos verschachtelte Detektiv-Geschichte von Bill Condon mit Ian McKellen
und hier eine Kritik des Films "Mein fabelhaftes Verbrechen" – outrierte Komödie über einen Mordfall 1935 im Pariser Theatermilieu von François Ozon
und hier einen Beitrag über den Film "Verlorene Illusionen" – brillante Verfilmung von Balzacs Roman-Klassiker über die Entstehung des Feuilletons im 19. Jahrhundert von Xavier Giannoli.
und hier einen Bericht über den Film "Love is the Devil" – Dokudrama über eine homosexuelle Beziehung des Malers Francis Bacon in den 1960er Jahren von John Maybury.
Kampf um die Hackordnung
Da lassen sich durchaus Parallelen zu heutigen Kulturkämpfen ziehen. Doch man kann sich auch einfach an den überraschenden Wendungen der Handlung und den durchweg exzellenten Darstellern erfreuen. Vor allem beeindruckt, wie Ian McKellen seine snobistische, ambivalente Figur sichtlich mit Vergnügen verkörpert, aber seinen Mitspielern ebenso Raum lässt. Auch deshalb rutscht der Film, trotz aller bösen Bonmots, nie auf das Niveau einer platten Groteske ab.
Stets lässt ein ernster Unterton die tragische Grundierung erahnen: dass alle Akteure in Erskines perfidem Ränkespiel dafür einen Preis zahlen müssen. Als zeittypisch schwächstes Glied in der Kette muss Nina sogar ihr Leben lassen: Obwohl sie den Schlagabtausch kühn eröffnet, wird sie am Ende zum Spielball im universellen Kampf um die Hackordnung.
Bittere Buße mit Stil
Unterschwellig wird dabei ebenso um die mediale Deutungshoheit gestritten; darunter versteht Erskine nichts weniger als den gesellschaftlichen Stellenwert der Kultur. Beim Versuch, ihn zu verteidigen, geht er buchstäblich über Leichen. Als sich sein Gewissen meldet und es für ihn Zeit wird, dafür bitter zu büßen, tut er das wenigstens mit Stil.