
Der Roman „Der Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow (1891-1940) galt lange wegen der Komplexität des Werks als unverfilmbar. Zu diesem Nimbus trug auch die Vorgeschichte seiner Veröffentlichung bei. Seinem Credo „veröffentlichen muss ein Schriftsteller nicht, aber schreiben muss er“ folgend, arbeitete der Autor zwölf Jahre lang daran bis zu seinem frühen Tod; wissend, dass diese Satire auf die Repressalien in der Stalin-Ära vielleicht nie publiziert werden würde.
Info
Der Meister und Margarita
Regie: Michail Lokshin,
157 Min., Russland/ Kroatien 2024;
mit: August Diehl, Julia Snigir, Jewgeni Zyganow, Claes Bang
Weitere Informationen zum Film
Polanski + Fellini scheiterten
Russische Verfilmungen entstanden erst nach dem Ende der Sowjetunion; die wohl gelungenste war 2005 eine werknahe Fernsehserie von Wladimir Bortko in zehn Teilen. Zu den bekannten westlichen Regisseuren, die ihr Unterfangen einer Verfilmung aus diversen Gründen abbrachen, zählen Roman Polanski, Federico Fellini, Terry Gilliam und Baz Luhrmann.
Offizieller Filmtrailer
Spielfilmdebüt mit historischer Romanze
Nun hat ein russisches Produzenten-Trio einen neuen Anlauf unternommen – und dafür den 44-jährigen Michael Lockshin als Regisseur verpflichtet. Er wurde 1981 in den USA als Kind russischer Eltern geboren; die Forscher-Familie remigrierte fünf Jahre später in die Sowjetunion der Perestroika-Phase. Dort wuchs Lockshin auf, studierte Psychologie in Moskau und drehte anschließend Werbefilme in London. Er spricht Russisch und Englisch fließend, hat einen US- und einen russischen Pass.
Sein Spielfilmdebüt war 2020 die historische Filmromanze „Silver Skates“, die in Russland Erfolg hatte und auch bei Netflix gezeigt wurde. Möglicherweise erhoffte sich die russische Filmförderung, Lockschin werde die unmögliche Liebe in „Der Meister und Margarita“ ähnlich romantisch betonen, weswegen der Staatsfonds 40 Prozent der Produktionskosten übernahm. Gedreht wurde bereits 2021 mit einem exzellenten russischen Star-Ensemble; die zentrale Figur des Teufels namens Woland verkörpert August Diehl, der sich sehr gut einfügt.
Vor Kinostart Regisseur-Name getilgt
Doch im Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Dadurch wurden nicht nur Schnitt und Postproduktion ebenso verzögert wie die Kinoauswertung in Russland. Zudem nahm Lockshin öffentlich für die Ukraine Partei, was ultranationalistische Kräfte auf den Plan rief, die den Kinostart des Films verbieten lassen wollten.
Nach langem Tauziehen kam er im Januar 2024 endlich regulär in die russischen Kinos; allerdings war zuvor der Name des Regisseurs aus allen Werbematerialien getilgt worden. Nichtsdestoweniger wurde der Film rasch zum Kassenschlager; wohl auch deshalb, weil bei dieser Geschichte der Verfolgung eines Literaten unter Stalin die Parallelen zur aktuellen Situation kaum zu übersehen sind.
Woland rächt Meister mit Teufelswerk
Der „Meister“ (Jewgeni Zyganow), wie er von seiner Geliebten genannt wird, fällt wegen seines der Parteilinie widersprechenden Stücks über die biblische Figur Pontius Pilatus in Ungnade. Ein Tribunal im Schriftsteller-Verband zeigt: Angesichts des Duckmäusertums seiner Kollegen hat Kämpfen keinen Sinn. Phantasie und freies Denken werden unterdrückt; weil sich der Meister dem nicht fügen will, wird das ihn und seine Muse Margarita (Julia Snigir) letztlich ruinieren.
Sie inspiriert ihn zu einem neuen Roman, einer an die Realität angelehnten Satire. Vorrangige Bedeutung kommt darin dem sinistren Herrn Woland zu; dieser elegante Ausländer mit deutschem Akzent macht es sich offenbar zur Aufgabe, mit seinen magischen Kräften den Autor der Geschichte sowohl zu unterstützen als auch die Unbill zu rächen, die ihm widerfährt. Während die erlebte Realität des Meisters immer bizarrer wird, verschwimmen die Grenzen zwischen Fiktion und Wahrheit; so erscheint das Moskau der 1930er Jahre als eine Art Zwischenwelt.
Kellerkontor versus Prachtkulissen
Hintergrund
Lesen Sie hier ein Interview mit Michail Lockshin über "Der Meister und Margarita"
und hier eine Besprechung des Films "Die Moskauer Prozesse" – anschauliche Re-Enactment-Doku über Schauprozesse gegen russische Künstler von Milo Rau
und hier einen Beitrag über den Film “Hotel Lux” – herrlich sarkastische Stalinismus-Satire von Leander Haußmann mit Michael “Bully” Herbig
und hier einen Bericht über den Film "The Death of Stalin" – brillant schwarzhumorige Komödie über Machtkämpfe im Spätstalinismus von Armando Iannucci mit Steve Buscemi
und hier eine Kritik des Films "Faust" – von Putin geförderte Verfilmung von Goethes Klassiker durch Alexander Sokurow mit Hanna Schygulla.
Ähnlich fällt der Kontrast bei Dekor und Ausstattung aus: In voll gestopften Privaträumen mit brauner Holzvertäfelung spielen noch Jazzbands zu wilden Partys, die in Orgien abgleiten; in lichtdurchfluteten Sälen und Hallen aus Granit und Marmor ist alles totenstill.
Bibel-Akteure sprechen Latein + Aramäisch
Dabei erfasst der Film die Essenz des Romans sehr gut, ohne sich sklavisch an dessen Dramaturgie zu halten. Doch die drei wesentlichen Handlungsstränge wurden beibehalten: die tragische Liebesgeschichte der verheirateten Margarita mit dem Meister, ihrer beider Abenteuer mit Woland und dessen Gehilfen sowie drittens eine historische Ebene mit Pontius Pilatus (Claes Bang) und Jesus.
Beide Akteure aus dem Neuen Testament sprechen in der russischen Originalfassung des Films sogar auf Latein und Aramäisch, was der religiösen Komponente des Romans Rechnung trägt. Ähnlich eindrucksvoll inszeniert Regisseur Lockschin, wie Woland die Aufführung eines stalinistischen Agitprop-Stücks auf einer Theaterbühne in eine Orgie verwandelt. Die filmischen Erzählebenen gehen genauso nahtlos ineinander über wie in der Vorlage, wodurch der parodistische und zugleich fatalistische Unterton der Erzählung gut zur Geltung kommt.
Von Einreise besser absehen
Rasch versteht man, warum Lockshin lebensgefährlichen Ärger mit der Justiz bekäme, würde er nach Russland reisen. Zu offensichtlich sind die Ähnlichkeiten zwischen Stalins Totalitarismus und dem heutigen Putin-Regime im Umgang vor allem mit Intellektuellen. Was umso mehr für diese gelungene Verfilmung spricht; auch als Anregung, eines der interessantesten und bedeutendsten Werke der sowjetischen Literatur (wieder) zu entdecken.