Michail Lockshin

Kreml kann Bulgakow nicht verbieten

Michail Lockshin bei den Dreharbeiten zu "Der Meister und Margarita". Fotoquelle: Capelight
Kassenschlager trotz Zensur und Boykott: Die Neuverfilmung der Stalinismus-Satire „Der Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow wurde 2024 in Russland zum Kino-Hit. Warum, erklärt Regisseur Michail Lockshin – mit Fantasy-Sowjet-Architektur und August Diehl als deutscher Verkörperung des Teufels.

Mr. Lockshin, Sie wurden 1981 in den USA als Kind russischer Eltern geboren, die mit ihnen 1986 in die späte Sowjetunion remigrierten. Sie haben in Moskau Psychologie studiert, in Großbritannien Werbefilme gedreht und mit ihrem Spielfilmdebüt „Silver Skates“, einem historischen Liebesdrama, in Russland 2020 großen Erfolg gehabt. Sie besitzen zwei Pässe, sprechen fließend Englisch und Russisch: Fühlen Sie sich eher als Russe oder als Amerikaner?

 

Ich wähle eine dritte Option. In der heutigen Welt gibt es sehr viele Menschen mit multikulturellem Hintergrund; ich betrachte mich daher als Kosmopolit. Dieser Begriff hat vielerorts keinen guten Klang; Stalins Sowjetunion kämpfte in den 1930er Jahren wütend gegen den so genannten Kosmopolitismus, wie viele Nationalisten heute noch. Doch ich plädiere für Humanismus; ich verstehe verschiedene Kulturen und gehöre ihnen an, identifziere mich aber nicht völlig mit ihnen.

 

Ich bin mit sowjetischen und US-Filmen und -Literatur aufgewachsen, aber auch mit europäischen; das half mir, die Figuren in „Der Meister und Margarita“ zu verstehen. Ich bin genauso mehrsprachig wie Michail Bulgakow; er sah sich als ein Angehöriger der europäischen Kultur, nicht der russischen, und betrachtete den Stalinismus aus der Perspektive eines Außenseiters.

 

Jeder Leser hat eigene Version

 

Info

 

Der Meister und Margarita

 

Regie: Michail Lockshin,

157 Min., Russland/ Kroatien 2024;

mit: August Diehl, Julia Snigir, Jewgeni Zyganow, Claes Bang

 

Weitere Informationen zum Film

 

Was war ihr erster Lektüre-Eindruck von „Der Meister und Margarita“?

 

Bulgakows Roman habe ich zum ersten Mal als Teenager gelesen, vor 27 oder 28 Jahren. Damals konnte ich mit der Handlung weniger anfangen als mit den satirischen Elementen und Aspekten. Bei der abermaligen Lektüre in meinen Zwanzigern war das ganz anders. Das macht die geniale Qualität dieses Romans aus: Man liest ihn immer wieder neu, und jeder Leser hat seine eigene Version von „Der Meister und Margarita“.

 

Als klar wurde, dass ich ihn verfilmen sollte, habe ich ihn häufig studiert und jedes Mal neue Metaphern und Allegorien darin entdeckt, bei denen ich mich fragte: Wie konnte mir das bisher entgehen? Damit bin ich nicht allein: Unter Literaturwissenschaftlern gibt es eine heftige Debatte über die grundlegendsten Fragen, etwa wovon der Roman eigentlich handelt und wer seine Hauptperson ist.

Offizieller Filmtrailer


 

Normale Teilfinanzierung durch Kulturfonds

 

Lassen Sie uns auf die verwickelte Entstehungsgeschichte des Films eingehen. Das Projekt startete anfangs ohne Sie – wie kamen Sie dazu?

 

Die Produzenten besaßen seit Jahren die Rechte und hatten sich bereits mit einem anderen Team an einer Verfilmung versucht, aber das klappte nicht. 2019, als „Silver Skates“ bereits gedreht war, luden sie mich und meinen Ko-Autor Roman Kantor ein, Vorschläge für einen neuen Anlauf zu machen. Bei Ausbruch der Pandemie 2020 begannen wir, am Drehbuch zu arbeiten; britische Finanziers kamen an Bord, ebenso die europäische, für Russland zuständige Abteilung des Universal-Filmverleihs.

 

Der Film war also eine internationale Produktion mit russischer Beteiligung; deshalb übernahm der staatliche russische Kulturfonds einen Teil der Finanzierung, wie es auch in Deutschland oder Frankreich üblich ist. Mit diesem Budget wurde der Film im Lauf des Jahres 2021 gedreht. Doch als der Angriffskrieg gegen die Ukraine im Februar 2022 losbrach, ließ sich dieses normale Prozedere in der russischen Öffentlichkeit kaum noch vermitteln.

 

Unterdrückte Freiheit in Kunst + Liebe

 

Es gab schon einige Adaptionen; unter anderem eine italienisch-jugoslawische von 1972; eine polnische Teilverfilmung durch Andrzej Wajda aus demselben Jahr; eine russische von 1994, die erst 2011 ins Kino kam, und eine zehnteilige russische TV-Serie 2005, die viel Anklang fand. Diese ist in eher schlichtem Realismus gehalten. Sie haben eine völlig andere Ästhetik gewählt – warum?

 

Der Roman gilt nun einmal als Fantasy-Meisterwerk. Unsere Entscheidungen, welche Ästhetik wir verwenden, hängt von den Themen und Bedeutungen ab, die wir vermitteln wollen. Das wichtigste Thema ist die Freiheit eines Individuums, eines Künstlers in einer totalitären Dikatur; also die Seele eines Menschen in einem Staat, der Individualität und Entfaltungsfreiheit unterdrückt. Sowohl in der Kunst wie in der Liebe – zwischen beiden besteht im Roman eine Verbindung. Diese repressive Welt veranschaulichen wir durch ein fantastisch-stalinistisches Moskau. Würden die Protagonisten sich durch das alte Moskau bewegen, dann würde dieser Kontrast, diese Gegenüberstellung fehlen.

 

Ohne Krieg wäre das Meiste gebaut worden

 

Kann man sagen: Sie zeigen das Moskau, das sich Stalin erträumt hat?

 

Genau, wobei man in den 1930er Jahren längst begonnen hatte, Moskau komplett umzugestalten. Das Meiste, was man im Film sieht, wäre tatsächlich gebaut worden, wäre nicht 1941 der Zweite Weltkrieg dazwischen gekommen. Der „Palast der Sowjets“ sollte mit 415 Metern höher als das Empire State Building und das größte Gebäude der Welt werden; sein Dach sollte eine bis zu 75 Meter hohe Lenin-Statue krönen.

 

All das sollte die Dominanz des Staates über den Einzelnen ausdrücken. Solche Entwürfe der stalinistischen Architektur haben wir mit Fantasy-Elementen verknüpft. Dadurch ist das Genre des Filmes schwer zu definieren; es reicht vom Hollywood- bis zu Arthouse-Drama mit komplexer Handlung. Was nur möglich ist, weil der Roman selbst ganz unterschiedliche Motive und Tonlagen mixt und einander gegenüberstellt.

 

Trickbetrüger, der Gutes schafft

 

Warum haben Sie den deutschen Schauspieler August Diehl für die Rolle des Woland ausgewählt, also des Teufels? Wegen der Anspielungen im Roman auf Goethes „Faust“ und seinen Mephistopheles?

 

Die spielen eine Rolle. Woland ist einer der Namen von Mephistopheles; er gibt ihn sich selbst in der Walpurgisnacht. Im Roman tritt er als eleganter Europäer mit deutschem Akzent auf. Wir hatten mehrere Kandidaten, aber August Diehl war unsere erste Wahl, wegen seines Esprits und weil er einen bestimmten Typ von Teufel verkörpert – nicht den der christlichen Religion, sondern eher einen Trickbetrüger.

 

Er tut nichts wirklich Böses, sondern bringt eher zum Vorschein, welches Böse und welche Gemeinheiten die Menschen begehen. In diesem Sinne steht er im Dienste des Guten, wie das berühmte „Faust“-Zitat als Motto des Romans lautet: „…ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“

 

Regierung wusste nicht, wie politisch Film ist

 

Während der Postproduktion des Films entfesselte Putin den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Damit geriet auch dieser Film ins Visier russischer Nationalisten, die gegen die Ko-Finanzierung mit öffentlichen Geldern protestierten und zum Boykott aufriefen. Wie ist es Ihnen dennoch gelungen, trotz Repressalien und Zensur einen regulären Kinoeinsatz in Russland hinzubekommen?

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Besprechung des Films "Der Meister und Margarita"

 

und hier eine Rezension des Films "Die Moskauer Prozesse" – anschauliche Re-Enactment-Doku über Schauprozesse gegen russische Künstler von Milo Rau

 

und hier eine Besprechung des Films “Hotel Lux” – herrlich sarkastische Stalinismus-Satire von Leander Haußmann mit Michael “Bully” Herbig

 

und hier einen Beitrag über den Film "The Death of Stalin" – brillant schwarzhumorige Komödie über Machtkämpfe im Spätstalinismus von Armando Iannucci mit Steve Buscemi

 

und hier einen Bericht über den Film "Die vierte Macht"deutsch-russischer Polit-Thriller von Dennis Gansel mit Moritz Bleibtreu.

 

und hier eine Kritik des Films "Faust" – von Putin geförderte Verfilmung von Goethes Klassiker durch Alexander Sokurow mit Hanna Schygulla.

 

 

Seit Ende der Dreharbeiten 2021 war ich nicht mehr in Russland. Wir hatten mit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen: Der Schnitt wurde ein Jahr lang unterbrochen; die gesamte Postproduktion lief in den USA ab. Ein Jahr lang war der Verleih in der Schwebe, dann wurde der Start um ein weiteres Jahr verschoben. Dass der Film schließlich doch in die russischen Kinos kam, erklären die Produzenten folgendermaßen: Die Regierung konnte sich nicht leisten, Bulgakow zu verbieten.

 

Über die Dreharbeiten und die anschließende Debatte war viel berichtet worden, und das Publikum wartete auf das Ergebnis. Wäre die Kinoauswertung untersagt worden, hätte das wie ein Bannstrahl gegen einen der berühmtesten russischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts ausgesehen, und das wollte sich die Regierung nicht vorwerfen lassen. Dabei wusste sie nicht, wie politisch der Film ausfällt; zwar ist der Roman voller systemkritischer Untertöne, aber im Film werden sie deutlich herausgestellt.

 

Box-Office-Erfolg dank Sozialer Medien

 

Warum hat die Zensur ihn trotzdem passieren lassen?

 

Der Film ist zensiert worden; etwa fünf Minuten wurden herausgeschnitten. Aber das Kalkül war wohl: Wir lassen den Film im Januar 2024 ohne große Marketing-Kampagne anlaufen, an einem unattraktiven Startttag, ohne Namensnennung des Regisseurs, der pro-ukrainisch eingestellt ist.

 

Keiner der Verantwortlichen hat damit gerechnet, dass der Film ein solcher Kassenschlager werden würde, mit fünf bis sechs Millionen Zuschauern allein in Russland. Doch in der Zwischenzeit haben sich Kontrolle und Zensur weiter verschärft; wahrscheinlich wird unter Putin kein ähnlich kontroverser Film je wieder ins Kino kommen.

 

Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für diesen Erfolg?

 

Einiges lief über virale Mundpropaganda in den Sozialen Medien, à la: „Schaut Euch diesen Film schnell an, bevor er abgesetzt wird!“. Ich denke, ein großer Teil der russischen Bevölkerung ist gegen das herrschende Regime eingestellt; diese Leute sind empfänglich für jede frische Brise, die ihr Sehnen nach einem freien Russland zum Ausdruck bringt.