Lambert Wilson + Barbara Sukowa

Klandestin

Annäherungsversuche: Der junge Marokkaner Malik (Habib Adda) teilt sich mit Mathilda Marquardt (Barbara Sukowa) einen Joint. Foto: farbfilmverleih
(Kinostart: 24.4.) Vier Menschen, eine Zwickmühle: Aus vier Blickwinkeln erzählt Filmemacherin Angelina Maccarone die Geschichte einer illegalen Einreise nach Europa. Trotz Drehbuchschwächen gelingt ihr ein emotionales Drama, in dem die Frauenfiguren den stärksten Eindruck hinterlassen.

In der nordmarokkanischen Hafenstadt Tanger malte einst Henri Matisse einige seiner schönsten Bilder. Doch Malik (Habib Adda) hat für kunstgeschichtliche Betrachtungen wenig übrig; er will weg aus der Stadt. Der junge Marokkaner sieht seine Zukunft in Europa. Dort will er Musik machen und sich ein besseres Leben aufbauen. Versteckt im Lastwagen des schwulen britischen Künstlers Richard (Lambert Wilson), für den er zur Muse geworden ist, schafft er es tatsächlich bis nach Frankfurt – natürlich illegal.   

 

Info

 

Klandestin

 

Regie: Angelina Maccarone,

124 Min., Deutschland 2024;

mit: Lambert Wilson, Barbara Sukowa, Habib Adda

 

Weitere Informationen zum Film

 

Eigentlich plant Malik, sich zu seinem Onkel nach Berlin durchzuschlagen. Seine Familie ist eingeweiht und zählt auf ihn. Doch in der Hauptstadt kommt er nie an. Frankfurt wird nach einem vermeintlich islamistischen Terroranschlag komplett abgeriegelt. Ein hohes Polizeiaufgebot und verschärfte Sicherheitskontrollen an den Flughäfen und Bahnhöfen machen eine Weiterreise, egal wohin, zu gefährlich.

 

Unterschlupf bei Politikerin

 

Richard ist mit der Situation überfordert. Er wusste nichts von Maliks Absichten, hat ihn erst bei der Grenzkontrolle hinter Leinwänden und Staffeleien im Stauraum seines Lasters entdeckt. Zum Glück waren die Kontrolleure weniger aufmerksam. Nun sitzen sie beide in der Wohnung von Richards Freundin Mathilda (Barbara Sukowa), die der Künstler um Hilfe bittet. Die konservative EU-Politikerin versteht, dass Malik sich verstecken muss.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Verschiedene Vergangenheiten

 

Obendrein steht Richard und Mathilda ein Trip nach London bevor: Er soll dort einen wichtigen Galleristen treffen; sie muss ein Haus ausräumen, das sie einst mit ihrem Ex-Mann bewohnt hat. Das Drehbuch von Regisseurin Angelina Maccarone suggeriert: Es ist für beide eine Reise in eine gemeinsame Vergangenheit. Erinnerungen an wilde Zeiten, legendäre Rockkonzerte und eine tiefe emotionale Verbundenheit bilden das Gerüst ihrer Freundschaft.

 

Die dritte Person, die von Maliks illegalem Aufenthalt erfährt, ist Amina (Banafshe Hourmazdi), Mathildas neue Assistentin. Die junge Anwältin mit marokkanischen Wurzeln soll ihm den Ernst der Lage klarmachen; allerdings hat sie zunächst wenig Verständnis für ihn. Die alleinerziehende Mutter ist in zweiter Generation in Deutschland geboren und aufgewachsen. Mühsam hat sie sich hier eine sichere Existenz aufgebaut. Sie weiß: Um in ihrem Umfeld akzeptiert und respektiert werden, muss sie stets besser sein als die anderen – das zehrt an ihren Kräften. Eine unglückliche Affäre mit ihrer verheirateten Ex-Chefin Sibylle (Katharina Schüttler) macht die Sache nicht einfacher.

 

Vier Menschen in der Grauzone

 

Angelina Maccarone bringt in „Klandestin“ vier Menschen aus verschiedenen Welten in einer Frankfurter Penthouse-Wohnung zusammen. Die farblosen Wände des sterilen Apartments weisen auf die Grauzone hin, in der sich die Protagonisten bewegen. Denn Maliks irrationales Handeln – gleich am ersten Tag verlässt er die Wohnung – und seine Sturheit bringen bald alle Beteiligten in Schwierigkeiten, vor allem ihn selbst.

 

Dabei bedient sich Maccarone einer nüchternen Erzählweise; sie hat ihre Geschichte sorgfältig ausbalanciert. Diese wird in vier Kapiteln erzählt, die jeweils das Geschehen aus einem anderen Blickwinkel schildern: Jeder Figur gebührt die gleiche Aufmerksamkeit. Alle haben ihre Geheimnisse, Ängste und Sehnsüchte – und eine persönliche Sicht auf die Dinge. In Rückblicken und vorausgreifenden Passagen kommen ihre individuellen Standpunkte zum Vorschein.

 

Argumente von beiden Seiten

 

Die größte Reibungsfläche im Ensemble bietet Mathilda. Als konservative Hardlinerin handelt sie in Maliks Fall gegen ihre eigenen Prinzipien. Im EU-Parlament steht sie für eine strenge Migrationspolitik, da sie eine drastische Begrenzung von Zuwanderung fordert. Damit nicht genug: Mit einem rassistischen Kommentar zum Frankfurter Bombenanschlag bringt sie den türkischen Staatschef höchstpersönlich gegen sich auf. Entschuldigen wird sie sich dafür nicht.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ich Capitano" episches Stationen-Drama über die Flucht zweier Senegalesen nach Europa von Matteo Garrone, prämiert mit Silbernem Löwen für beste Regie 2023

 

und hier eine Besprechung des Films "Tori & Lokita" – nüchtern-engagiertes Drama über minderjährige Flüchtlinge von Jean-Pierre + Luc Dardenne

 

und hier einen Bericht über den Film "Borga" – brillant vielschichtiges Migranten-Drama eines Ghanaers von York-Fabian Raabe

 

und hier einen Beitrag über den Film "Atlantic." über eine Windsurfer-Flucht aus Marokko nach Europa von Jan-Willem van Ewijk.

 

Maccarone greift in ihrem Film viele mit dem Thema Einwanderung verbundene Probleme auf und lässt dabei verschiedene gesellschaftliche Positionen kollidieren. Die Rolle der europäischen Agentur Frontex im Einsatz an den EU-Außengrenzen kommt ebenso zur Sprache wie Abschiebungen ohne Asylverfahren. Da brodelt es emotional unter der Oberfläche; aus ihrer Rolle auszubrechen erlaubt die Regisseurin ihren Figuren jedoch kaum.

 

Merkwürdige Zufälle +  eine Kurzschlusshandlung

 

Um die Handlung voranzutreiben, bedient sich das Drehbuch dagegen einiger gezwungen wirkender Zufälle und Wendungen. So trifft Malik, als sei die Situation nicht schon angespannt genug, ausgerechnet auf die Frankfurter Bombenleger. Ebenso fragwürdig erscheint Richards Beziehung zu seinem „Model“. Glaubt er ernsthaft, Malik sei auch seinetwegen nach Deutschland gekommen? Seine Naivität macht den Künstler unglaubwürdig.

 

Dagegen hinterlassen die weiblichen Protagonistinnen in „Klandestin“ den stärksten Eindruck, insbesondere Amina. Sie ist die spannendste, kantigste Figur in dieser ungleichen Viererkonstellation – konsequent und zärtlich, leidenschaftlich und subversiv. Zudem setzt sie sich als Einzige am Ende für Malik ein, als er aus Panik eine Kurzschlusshandlung begeht. Banafshe Hourmazdi verkörpert sie nicht nur in diesem Moment mit beeindruckender Sensibilität und Zielstrebigkeit.