
Wer möchte nicht abstrakte Kunst verstehen? Eine gute Gelegenheit, es – wieder einmal – zu versuchen, bietet die aktuelle Ausstellung im Museum Barberini. Hier kommt auf seine Kosten, wer sich einfach auf Farben und Formen einlassen kann und will. Denn diese Schau ist keineswegs theorieüberfrachtet, im Gegenteil – was umso mehr erlaubt, diese Kunst zu genießen.
Info
Kosmos Kandinsky – Geometrische Abstraktion im 20. Jahrhundert
15.02.2025 - 18.05.2025
täglich außer dienstags 10 bis 19 Uhr,
im Museum Barberini, Am alten Markt, Potsdam
Katalog 39,90 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Netzwerke widerlegen Titel-These
Tatsächlich will die Schau in neun Abteilungen die Wirkung von Kandinskys Kunst auf Zeitgenossen und Nachfolger aufzeigen. Aber nicht als klassische Heldengeschichte mit Kandinsky als einsamem Vorkämpfer – das wäre nicht nur platt und überholt. Denn letztlich widerlegt die Ausstellung die These ihres Titels, indem sie deutlich macht, wie vielschichtig das Zusammenspiel von Geben und Nehmen innerhalb von internationalen Künstler-Netzwerken verlief. Dabei spielte Kandinsky allerdings eine herausragende Rolle; wie ein Schwamm saugte er alles Neue auf, das sich um ihn herum ereignete.
Feature zur Ausstellung. © Museum Barberini
Alles begann mit Monets Getreideschober
Ironie der Geschichte: Dank seiner Impressionismus-Sammlung ist das Museum Barberini als Startpunkt für diese Schau bestens geeignet. Mehr noch: Als Auftakt-Exponat hätte eines der berühmten Getreideschober-Gemälde von Claude Monet dienen können. Denn die Begegnung mit ihm wurde für Kandinsky zum Schlüsselerlebnis, wie er später notierte: „Vorher kannte ich nur die realistische Kunst. Und plötzlich zum ersten Mal sah ich ein Bild! Dass das ein Heuhaufen war, belehrte mich der Katalog.“
Danach wechselte der studierte Jurist seinen Beruf und schlug als Quereinsteiger eine Laufbahn als Maler ein – und zwar in München. Nach expressionistischen Anfängen im Rahmen der Künstlergruppe „Die Brücke“ wurden seiner Bilder im Lauf der Zeit immer ungegenständlicher. Es heißt, ihm sei die Idee zur abstrakten Malerei gekommen, als er eines seiner Landschaftsgemälde seitlich gedreht an der Wand lehnen sah – und darauf keine Dinge erkannte.
Nach Oktoberrevolution im Abseits
Doch Kandinskys spannendes Sich-Vortasten ins Gegenstandlose lässt die Ausstellung außen vor. Sie beginnt ziemlich abrupt mit seiner Rückkehr nach Moskau 1914 bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dort war die russische Avantgarde im Aufbruch; die Konstruktivisten und Suprematisten erproben völlig neue Bildinhalte. Ljubov Popova lässt rasante Kreise als „Raum-Kraft-Komposition“ wirbeln, Kasimir Malewitsch modelliert Bauklotz-Architekturen, sein Schüler Ilja Tschaschnik füllt eine Leinwand mit weißem Kreuz auf schwarzem Grund.
Nach der Oktoberrevolution 1917 werden die Avantgardisten kurzzeitig zur maßgeblichen Kunstströmung im neuen Staat, angefeuert von sozialistischen Gesellschaftsutopien und Ingenieurstechnik. Kandinsky musste allerdings feststellen, dass er mit seinen Ideen ins Abseits geriet: In seiner einflussreichen Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ hatte er 1911 ein etwas nebulöses Konzept über die „innere Notwendigkeit“ künstlerischen Schaffens publiziert, das sich teils auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse, teils auf Theosophie stützte.
Persiflage auf das „Schwarze Quadrat“
Er ging zurück nach Deutschland und folgte 1922 einem Ruf an das drei Jahre zuvor gegründete Bauhaus. Dort wurde er zu einem der einflussreichsten „Meister“, wie sich die Bauhaus-Lehrer nannten. Sein Gemälde „Im schwarzem Viereck“ von 1923 persifliert Malewitschs legendäres „Schwarzes Quadrat“, das Schlüsselwerk des Suprematismus von 1915. Bei Kandinsky sind die rechten Winkel willkürlich verformt, spitze Dreiecke reihen sich wie Berggipfel unterm goldgelben Sonnenkreis. Allerdings komponierte er seine Motive nun mit Lineal und Zirkel, was er zuvor strikt abgelehnt hatte.
Manche Kandinsky-Gemälde wie „Leicht im Schwer“ oder „Oben und links“ erinnern an Werke seines Bauhaus-Kollegen Paul Klee. Andere Überlegungen zu geometrischen Grundbegriffen und der Farbskala waren eher intuitiv als mathematisch kalkuliert; etwa bei einem Ölbild von Johannes Itten, das mit warmen und kalten Farben jongliert.
2000 Mal „Hommage to the Square“
Im Übrigen veröffentlichten Klee wie Kandinsky ihre Konzept-Ideen als Bauhaus-Bücher; bis nach dem Zweiten Weltkrieg entfalteten diese Schriften ihre Wirkung. Zum Vermittler in die nächste Künstler-Generation, vor allem in den USA, wurde der Bauhaus-Schüler und spätere Lehrer Josef Albers. Sein Hauptwerk malte er in 2000 Farbvarianten: Kleinere Quadrate sind umgeben von größeren Quadraten, als „Hommage to the Square“ betitelt. Auf diese Weise wollte Albers untersuchen, wie die menschliche Wahrnehmung auf verschiedene Farb-Kombinationen reagiert.
Allerdings verlangt die Schau ihren Besuchern mit heftigen Sprüngen in der Chronologie einige Flexibilität ab: So wird im Bauhaus-Kapitel zugleich die „Konkrete Kunst“ vorgestellt, die Max Bill und andere in Zürich bis in die 1960er Jahre hinein entwickelten. Dabei ließ sich etwa Verena Loewensberg von Jazzmusik und Zen-Buddhismus anregen, wie man aus den informativen Bildlegenden erfährt: Hintergrund-Informationen zu jedem Werk verdeutlichen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen die vermeintlich überzeitlich-abstrakte Kunst entstand.
Abstraction–Création + Constructionists
Mit dem Bauhaus im engen Austausch arbeitete die niederländische Gruppe De Stijl. Deren Mitstreiter wie Piet Mondrian beharrten darauf, sich radikal auf die Grundfarben Gelb, Rot, Blau plus Schwarz und Weiß sowie rechte Winkel zu beschränken. Als das NS-Regime 1933 das Bauhaus auflöste, floh Kandinsky nach Paris, wo er mit dem dort dominierenden Surrealismus konfrontiert wurde. Und er reagierte darauf mit biomorph-organischen Formen, die fortan seine Werke bis zu seinem Tod 1944 prägen sollten. Ähnlich wie bei vielen Mitgliedern der stilistisch pluralistischen Gruppe „Abstraction–Création“, der sich Kandinsky anschloss.
Der nächste Abschnitt behandelt Großbritannien: Dort trafen sich Exilanten, die vor NS-Terror und Krieg in Kontinentaleuropa geflüchtet waren. Als Ableger der Gruppe „Abstraction-Création“ gründeten die Bildhauerin Barbara Hepworth und ihr Partner Ben Nicholson eine Künstlerkolonie in St. Ives in Cornwall: Mit Reliefs und Skulpturen überführten sie die geometrische Abstraktion in den dreidimensionalen Raum. Nach Kriegsende formierte sich in London die Gruppe der „Constructionists“, die an die Vorkriegs-Konstruktivisten anknüpften. Ihre feinsinnigen Reliefs aus Holz, Metall und weißer Farbe füllen eine ganze Wand.
Von Hard Edge zu Op-Art
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Münter & Kandinsky" – Paar-Biopic von Marcus O. Rosenmüller
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Hilma af Klint und Wassily Kandinsky – Träume von der Zukunft" – Vergleichs-Schau zweier Pioniere der abstrakten Malerei im K20, Düsseldorf
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Die Form der Freiheit – Internationale Abstraktion nach 1945" – eindrucksvolle Themenschau im Museum Barberini, Potsdam
und hier eine Kritik der Ausstellung "Ways of Seeing Abstraction" – Überblicksschau über abstrakte Kunst seit den 1960er Jahren im PalaisPopulaire, Berlin.
Als letzte Spielart wird die „Optical Art“ (Op-Art) der 1960/70er Jahre vorgestellt. Sie setzte auf Effekte, welche die visuelle Wahrnehmung herausfordern. Wandfüllende Formate von Bridget Riley, Victor Vasarely und Kollegen scheinen zu vibrieren, zu wabern oder sich zu wölben, mittels schwarzweißer Schachbrettmuster oder pastellfarbener Wellenstrukturen. Je länger man hinsieht, desto unsicherer wird, was man eigentlich sieht. Damit reagierte die Op-Art auf aktuelle Phänomene wie das Flirren des Fernsehschirms.
Ausblick auf Gegenwart fehlt
Aber wozu? Ist das nicht schlicht Effekthascherei? Als dieser Stil 1965 im New Yorker Museum of Modern Art erstmals vorgestellt wurde, war das Publikum begeistert; bei der Kritik hagelte es jedoch Verrisse. Da sehnt man sich fast zurück zu Kandinskys komplexen Kompositionen: Auch er spielte schon mit optischen Effekten, wie schwebenden Formen im Bild. Aber seine Idee einer spirituell-geistigen Dimension der Malerei war auf der Strecke geblieben. Leider endet damit der große, kunsthistorische Bogen; ein Ausblick auf abstrakt-geometrische Kunst der Gegenwart wäre spannend gewesen.