
Können Frauen klassische Moderne? Natürlich – warum denn nicht? In den vergangenen Jahren haben einige Ausstellungen nachgezeichnet, welche maßgebliche Rolle Künstlerinnen in wichtigen Avantgarde-Strömungen spielten: angefangen beim deutschen Expressionismus, Dada und der Neuen Sachlichkeit über den russischen Kubofuturismus oder Konstruktivismus und die geometrische Abstraktion bis zum Surrealismus und der gestisch-informellen Malerei der Nachkriegszeit. Kaum ein Ismus wurde noch nicht aus weiblicher Perspektive betrachtet.
Info
Radikal! Künstlerinnen und Moderne 1910 – 1950
08.02.2025 - 18.05.2025
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,
mittwochs bis 20 Uhr
im Saarlandmuseum - Moderne Galerie, Bismarckstraße 11-15, Saarbrücken
Katalog 29,80 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
18.06.2025 - 12.10.2025
täglich 10 bis 18 Uhr
im Unteren Belvedere, Rennweg 6, Wien
Wände voller misogyner Zitate
Doch das Konzept soll nicht allein den Geschlechterkampf beleuchten: „Radikal! stellt darüber hinaus antiquierte kunsthistorische Kategorisierungen infrage und wählt eine grenz- und gattungsüberschreitende Perspektive.“ Würde die Schau ihren feministischen Verbalradikalismus tatsächlich ernst nehmen, wäre sie damit wohl heillos überfordert: Die ganze Kunstgeschichte umschreiben kann keine Ausstellung. Gottlob verhallt der revolutionäre Impetus in den Schauräumen rasch, genauer: Er beschränkt sich darauf, die Wände mit misogynen Zitaten männlicher (Klein-)Geister zu pflastern.
Impressionen der Ausstellung
Vielfalt durch Drei-Länder-Kooperation
Denn das Grundanliegen der Kuratorinnen bleibt achtbar und wird von ihnen souverän umgesetzt: mithilfe der Werke von 60 Künstlerinnen aus 20 Ländern eine tour d’horizon durch Kunst von Frauen in der Zwischenkriegszeit zu bieten. Dabei profitiert die Ausstellung enorm vom Umstand, dass drei Einrichtungen aus drei Ländern miteinander kooperieren. Das Kunstmuseum im niederländischen Arnhem, der ersten Station der Schau, steuert zahlreiche Werke von Künstlerinnen der Benelux-Region bei, die hierzulande wenig bekannt sind. Ebenso verhält es sich mit denen aus dem früheren Habsburger Reich, die das Wiener Belvedere dazu beiträgt.
Wobei sich die gesamte Fülle nur im Katalog findet: Vermutlich aus Platzgründen fehlen etliche Exponate im Saarlandmuseum. Was sich verschmerzen lässt; die Präsentation ist gleichwohl vielfältig und aufregend genug. Angefangen mit dem ersten von drei Themenfeldern, das diversen Ansätzen der Abstraktion gewidmet ist. Neben arrivierten Klassikern wie den Russinnen Natalia Gontscharowa, Ljubow Popowa und Alexandra Exter finden sich hier markante Einzelgängerinnen: etwa Jacoba van Heemskerck van Beest aus Den Haag, die ihre ausdrucksstarken Kompositionen nummerierte.
Erste westliche weibliche Künstlerin aus China
Oder Lou Loeber aus Amsterdam, die figurative Szenen in kräftigen Farben so weit vereinfachte, dass sie sofort entschlüsselbar waren – dadurch wollte sie im Sinne der sozialistischen Bewegung eine für jedermann zugängliche Kunst schaffen. Mittendrin ein faszinierender Irrläufer: Die Chinesin Pan Yu Lin (auch Pan Yuliang) studierte in Shanghai und Paris und stellte anschließend in beiden Städten als „die erste westliche weibliche Künstlerin aus China“ aus. Offenbar vor allem Frauenakte im west-östlichen Synkretismus-Stil – aber das wirkte in ihrer Heimat schon sehr avantgardistisch gewagt.
Solche Trouvaillen auszubreiten, ist ein großes Verdienst dieser Ausstellung: Sie überschreitet den geläufigen europäisch-nordamerikanischen Kanon und bezieht auch nichtwestliche Künstlerinnen mit ein. Selbst wenn die Werkauswahl nicht immer geglückt ist: Die gezeigte Arbeit der Irakerin Madiha Umar zählt ebenso wenig zu ihren prägnantesten wie die der Libanesin Saloua Raouda Choucair oder von Zubeida Agha aus Pakistan; auch die türkisch-irakisch-jordanische Künstlerin Fahrelnissa Zaid hat Eindrucksvolleres geschaffen als das Gemälde, das hier zu sehen ist. Aber immerhin: All dies führt dem Publikum vor, dass der Westen kein Monopol auf die Moderne hat.
Intermezzo gegen Paragraph 218
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Jeanne Mammen: Die Beobachterin"– sehenswerte Retrospektive der bedeutendsten künstlerischen Chronistin der Weimarer Republik in der Berlinischen Galerie, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Sturm-Frauen – Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910–1932" – große Überblicks-Schau in der Schirn-Kunsthalle, Frankfurt/ Main mit Werken von Sonia Delaunay, Lavinia Schulz und Natalja Gontscharowa
und hier einen Artikel über die Ausstellung "Toyen" – großartige Retrospektive der tschechischen Surrealistin in der Hamburger Kunsthalle
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Fantastische Frauen – Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo" mit Werken von Leonor Fini + Claude Cahun in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Fahrelnissa Zeid: Pionierin der Moderne" – große Retrospektive der türkisch-irakisch-jordanischen Künstlerin in der Deutsche Bank KunstHalle, Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "InformELLE Künstlerinnen der 1950er/60er-Jahre" – gelungene Themenschau in Kassel, Schweinfurt und Hagen
und hier eine Kritik der Ausstellung "Hannah Höch – Abermillionen Anschauungen" – umfassender Überblick über das Gesamtwerk der (Post-)Dadaistin in Berlin + Würzburg
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Käthe Kollwitz – „Aber Kunst ist es doch" zur Wiedereröffnung des Käthe Kollwitz Museums, Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Schwestern der Revolution" über die Künstlerinnen der russischen Avantgarde im Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen.
Dramaturgisch geschickt erwarten die reizvollsten Exponate den Besucher am Ende des Rundgangs. Zuvor fungiert als Intermezzo eine Sektion mit Agitprop gegen den Abtreibungs-Paragraphen 218, der Schwangerschafts-Abbrüche mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus ahndete. Manche Werke waren 1931 in der Protest-Schau „Frauen in Not“ zu sehen; die kleine Auswahl belegt, dass löbliche Absichten nicht zwangsläufig Herausragendes hervorbringen. Neben prägnant stilisierten Leinwänden in Spritztechnik von Alice Lex-Nerlinger hängen recht schlicht-figurative Lithografien von Hanna Nagel oder Jeanne Bieruma Oosting aus den Niederlanden.
Selbst- + Fremd-Porträts nackter Tänzerinnen
Schließlich folgen in der dritten Abteilung Bilder zu Körper- und Geschlechter-Identität – in derart überraschender Vielfalt, wie man sie bei männlichen Künstlern kaum finden dürfte. Charley Toorop, die Tochter des berühmten niederländischen Symbolisten Jan Toorop, malte veristische Frauen-Porträts, die an detailgenauer Drastik nichts zu wünschen übrig lassen. Die Österreicherin Greta Freist glorifizierte sich selbst in neusachlicher Manier als fast nackte Tänzerin.
Gänzlich unbekleidet ist die Profi-Tänzerin Claire Bauroff, welche die Wiener Fotografin Trude Fleischmann in extrem ästhetisierenden Akt-Posen ablichtete. Und Grete Stern aus Wuppertal ersann Fotocollagen, welche die prekäre Position von Frauen mit abgründigem Humor aufs Korn nahmen – womit sie im argentinischen Exil erfolgreich dortige Magazine belieferte. Selbst Renée Sintenis, sonst eher für gefällige Tier-Plastiken bekannt, beeindruckt mit einer ätherisch gelängten Daphne-Bronzeskulptur.
Unnötiger Aplomb des radical chic
Dass die androgyne Claude Cahun aus Frankreich mit ihren narzisstisch-verspielten Foto-Selbstporträts nicht fehlen darf, dürfte dem heutigen Zeitgeist geschuldet sein – ebenso wie die surreal-verschlungenen Radierungen von Anton Prinner aus Budapest, der als 31-Jähriger nach Paris emigrierte und dort seinen weiblichen Vornamen ablegte. Den Schlussakzent setzt ein vielfach reproduziertes Gemälde der Surrealistin Leonor Fini: „Die Hüterin der Sphinxe“ (1941) wird gern als kraftvolle Versinnbildlichung weiblicher Autonomie gedeutet.
Ähnlich lassen sich die meisten der hier ausgestellten Arbeiten begreifen: Sie zeugen von einer Eigenständigkeit und Originalität, die es mit den Werken männlicher Künstler in den jeweiligen Strömungen locker aufnehmen können. Um das vorzuführen, bräuchte es gar nicht den rhetorischen Aplomb des radical chic, mit dem die Schau daherkommt.