
Dass die Menschheit ihre Welt über kurz oder lang in einen Zustand versetzen wird, in dem herkömmliches Leben unmöglich ist, sickert langsam in die täglichen Nachrichten ein. Im Science-Fiction-Genre werden daher längst dystopische Gedankenspiele durchgespielt: Wie könnte die Zukunft nach einer großen Umweltkatastrophe aussehen? Wer kontrolliert dann lebenswichtige Ressourcen?
Info
The Assessment
Regie: Fleur Fortuné,
109 Min., Großbritannien/ Deutschland/ USA 2024;
mit: Alicia Vikander, Elizabeth Olsen, Himesh Patel
Weitere Informationen zum Film
Staat entscheidet über Elternschaft
In der so genannten „Neuen Welt“ des Films „The Assessment“ wird aber auch das Leben der Privilegierten in einem wichtigen Punkt eingeschränkt: Fortpflanzung ist reglementiert. Darüber, wer ein Kind bekommen darf, entscheidet der Staat – nach einer Prüfung (engl: „Assessment“) durch eine Staatsbedienstete, die sich für eine Woche bei den Anwärtern einquartiert.
Offizieller Filmtrailer
Musterbürger der „Neuen Welt“
Deshalb steht eines Tages die Gutachterin Virginia (Alicia Vikander) vor der Wohnungstür von Aaryan (Himesh Patel) und seiner Frau Mia (Elizabeth Olsen), die sich um ein Kind beworben haben. Sollten sie sich qualifizieren, wird ihr Kind ex utero ausgetragen und ihnen anschließend übergeben. Aaryan versucht zunächst, mit Charme das Eis zu brechen, doch die zugleich kühl und kindlich wirkende Virginia kann über seinen Smalltalk nur müde lächeln.
Für das Paar spricht, dass sie Musterbürger der Neuen Welt sind. Mia trägt mit botanischen Forschungen zur Ernährungssicherheit bei; Aaryan ist Programmierer von virtuellen Haustieren. Mehr Gesellschaft von Lebewesen ist der dezimierten Menschheit nicht geblieben, seitdem die echte Fauna auf staatliche Anordnung hin gekeult wurde, was seinerzeit schwere Unruhen auslöste. Das Paar lebt fernab der restlichen Zivilisation in einem stilvollen Haus; eine schützende Kuppel darüber sorgt für moderates Klima.
Gutachterin wird verhaltensauffällig
Die bisher für surreale Musikvideos bekannte französische Künstlerin und Filmemacherin Fleur Fortuné beweist in ihrem Regie-Debüt reichlich Sinn für Atmosphäre: Das Dasein in dieser nicht so schönen neuen Welt fängt sie verstörend und zugleich ästhetisierend ein. Derweil werden Virginias Methoden zur Erstellung ihres Gutachtens zunehmend übergriffig.
Dass sie Details aus dem Sexleben des Paars abfragt, erträgt der langmütige Aaryan leichter als seine Frau. Doch die Geschütze, welche die Gutachterin danach auffährt, bringen auch ihn ans Limit. Ab dem zweiten Tag der Prüfung verwandelt sich Virginia in einen wahren Systemsprenger und benimmt sich fortan wie ein verhaltensauffälliges Kleinkind: Sie bewirft die Möchtegern-Eltern mit Essen und entwickelt zudem eine bemerkenswerte Zerstörungswut.
Woher kommt der Kinderwunsch?
Mia und Aaryan werden mit zunehmend zermürbenden Aufgaben konfrontiert und verzweifeln daran, dass sie nicht wissen, welche Reaktion von ihnen erwartet wird. Sollen sie Grenzen setzen oder maximale Belastbarkeit unter Beweis stellen? Darüber hinaus beginnen die beiden, die Motivation der Gutachterin zu hinterfragen.
Hintergrund
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Kein langes Leben in der „Alten Welt“
Für ihren Fortbestand allein braucht die Gesellschaft in der „Neuen Welt“ nämlich kaum neue Menschen: Ein für alle verfügbares Medikament stoppt den Alterungsprozess. So befinden sich manche Bewohner mit 150 Jahren gerade einmal in der Mitte ihres Lebens – im Unterschied zur so genannten „Alten Welt“, in der dieses Präparat selbstredend nicht zur Verfügung steht.
Dorthin werden Menschen in die Verbannung geschickt. Wie lange sie in dieser ruinierten Gegend überleben können, weiß niemand, denn in der „Neuen Welt“ existieren über diese Region nur Gerüchte. Manche gehen trotzdem erstaunlicherweise freiwillig dorthin. Warum? Man sieht: Es stecken durchaus spannende und weit reichende Fragen in dieser Dystopie. Leider verlieren sie sich zunehmend im Chaos, das Virginia bei ihren Gastgebern stiftet.
Philosophisches Potenzial geht verloren
Die schwarzhumorige Ebene, die sie in den Film bringt, reibt sich zwar produktiv an dem hygienisch-sauberen, leblosen Zukunftsszenario der „Neuen Welt“, aber leider auf Kosten des philosophischen Potentials – etwa der Frage, wie sich individuell und gemeinschaftlich Sinn stiften lässt, wenn Nachwuchs keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Der Epilog soll erklären, warum Virginia ihren Job überhaupt macht; das wirkt wie ein pflichtschuldiges Anhängsel. So verpufft die Inszenierung trotz ihrer Schau- und Unterhaltungs-Werte in diffuser Unentschlossenheit.