
Mit dem Versprechen, allein durch schlanke Schönheit ein besseres bis luxuriöses Leben führen zu können, werden seit Jahrzehnten nicht nur Fernsehsendungen gefüllt. Eine ganz Branche lebt vom Nachschub immer neuer Körper, deren makelloses Äußeres etwas verkaufen soll. Solche gibt es überall auf der Welt; da verwundert es nicht, dass sich eine Model-Agentur auch in einer heruntergekommenen litauischen Industriezone umsieht. Auch hier träumen Mädchen von einem Ausweg aus der dortigen Tristesse; für diese Chance sind sie bereit, viel zu riskieren.
Info
Toxic
Regie: Saulė Bliuvaitė,
99 Min., Litauen 2024;
mit: Vesta Matulyte, Ieva Rupeikaite, Egle Gabrenaite
Weitere Informationen zum Film
Bloß weg von hier!
Ihr angeborener Gehfehler macht das Mädchen zum Gespött und scheinbar leichten Opfer ihrer Umwelt. Sie weiß sich aber zu wehren und freundet sich bald mit der gleichaltrigen Kristina an, denn beide eint dasselbe Ziel: bloß weg aus diesem gottverlassenen Nest! Die Gelegenheit, es möglichst für immer zu verlassen, will sich gerade Kristina nicht entgehen lassen.
Offizieller Filmtrailer
Magen mit Watte füllen
Sie zieht die schüchterne Marija in eine Spirale aus Wunschdenken, Körperobsession und Selbstverleugnung hinein, die man mit einem aktuellen Modewort toxisch nennen kann. Selbstzerstörerisch träfe es aber auch: Alle beim Casting anwesenden Mädchen sollen einem extrem dünnen Körperideal entsprechen, das eine dubiose Agentin ihnen vermittelt. In den Pausen wird Watte zum Magenfüllen verteilt. Oder man gibt sich mit großer Selbstverständlichkeit gegenseitig Tipps, wie man einen Zentimeter Bauchumfang loswerden kann.
Mehrmals lässt die Agentin die Mädchen aufmarschieren, vermisst sie von Kopf bis Fuß, macht Fotos und verlangt dafür auch noch Geld, falls es jemand die Bilder in einer eigenen Präsentations-Mappe weiter verwenden möchte. Wahrend Kristinas Eltern ihr finanzielle Unterstützung anbieten, ist Marija ganz auf sich allein gestellt und lässt sich auf Sexarbeit ein.
Gewichtsverlust durch Bandwurmpille
All das schildert Regisseurin Saulė Bliuvaitė in harten und schmucklosen Bildern, die fast dokumentarisch anmuten und mitunter wie aufblitzende Erinnerungen daherkommen. Dieser Eindruck ist gewollt, denn Bliuvaitė verarbeitet in ihrem Debüts-Spielfilm eigene Erfahrungen aus ihrer Jugend irgendwo in einem litauischen Industriegebiet. Vielleicht deshalb behandelt sie ihre halbwüchstigen Protagonistinnen wenig zimperlich. Vor allem Kristina geht mit Essensverweigerung und Bandwurmpille krankhaft weit, um Gewicht zu verlieren.
Dabei wird nichts verklärt; Armut und Resignation werden aber auch nicht ausgestellt. Sie sind nur allenthalben zu sehen; etwa Stockflecken an Wänden und zusammengewürfelte Einrichtungen in schäbigen Wohnungen. Gesprochen wird wenig. Immerhin ist Sommer; das grüne Blattwerk der Bäume bringt etwas Farbe in die Umgebung aus graublauen Fassaden, vor denen die Menschen wie Staffage wirken.
Gefühle in tableaux vivants
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Club Zero" - bitterböse Selbstoptimierungs-Satire über Erleuchtung durch Essensverweigerung von Jessica Hausner mit Mia Wasikowska
und hier eine Besprechung des Films "The Tribe" – radikales Gehörlosen-Jugenddrama aus der Ukraine von Myroslav Slaboshpytskiy
und hier einen Bericht über den Film "The Neon Demon" – stilisiertes Psycho-Drama im Model-Milieu von Nicolas Winding Refn mit Elle Fanning
und hier einen Beitrag über den Film "Seht mich verschwinden – FEMMEfille" – posthumes Porträt des magersüchtigen Models Isabelle Caro von Kiki Allgeier.
Solche statischen Bilder beeindrucken durch ihre präzise Inszenierung, was zusätzlich die gefühlte Ausweglosigkeit unterstreicht, die ihren Protagonistinnen zu schaffen macht. Diese raue, aber ausgefeilte Ästhetik unterscheidet sich fundamental von anderen Filmen mit ähnlichem Sujet, etwa „The Neon Demon“ (2016) über mörderische Konkurrenz unter Models, der in glattpolierten Hochglanzbildern vorgeführt wird.
Offenlegung ohne Didaktik
Allerdings macht es Bliuvaitė dem Zuschauer nicht leicht, sich in die Charaktere einzufühlen, da nur die beiden Hauptfiguren überhaupt eine Kontur bekommen. Die übrigen Figuren wie die Eltern, andere Teenager oder junge Männer, die sie beim abendlichen Besäufnis am Fluss bedrängen, bleiben Randerscheinungen.
Durch glanzlos sezierende Betrachtung wird der tatsächlich vergiftete Umgang, sei es der Mädchen mit sich selbst oder andere zwischenmenschliche Beziehungen, offen dargelegt, ohne didaktisch aufzutreten. Angenehm ist das nicht, aber am Ende scheint sogar ein wenig Hoffnung auf.