
Als Filmtitel könnte “Alle lieben Touda” kontrafaktischer kaum sein: Die meisten Szenen scheinen ihm Hohn zu sprechen. Und wenn seine Bedeutung kurz vor Schluss enthüllt wird, durch die beiläufige Bemerkung eines Conférenciers, wirkt das ziemlich zynisch. Denn eigentlich liebt fast niemand Touda.
Alle lieben Touda
Regie: Nabil Ayouch,
102 Min., Marokko/ Frankreich/ Belgien 2024;
mit: Nisrin Erradi, Joud Chamihy, Jalila Talemsi
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Statt Liedpoesie anzügliches Tralala
Traditionell intonieren Sheikats die so genannte Aïta, offenbar eine Liedpoesie irgendwo zwischen Moritaten und Chansons. In solchen Gesängen werden ebenso öffentliche Ereignisse kommentiert wie auch Privates beschworen, etwa Liebe und Begehren. Doch diese Kunstform lässt sich schlecht versilbern; viele Sheikats sind genötigt, anzügliches Tralala in anrüchigen Nachtclubs vorzutragen, um mehr Trinkgelder zu kassieren. Worunter ihr Ruf gelitten hat, was sie in die Nähe von Prostituierten rückte – ähnlich wie etwa bei Bauchtänzerinnen in Ägypten und Arabien.
Offizieller Filmtrailer OmU
Zwischen Geldsegen und Vergewaltigung
Jedenfalls sind Sheikats auf sich allein gestellt. Auch Touda strampelt sich ab, um über die Runden zu kommen. Als Analphabetin benötigt sie Rkias Hilfe, um neue Liedtexte zu lernen. Aufträge erhält sie kurzfristig übers Mobiltelefon: für Auftritte bei einer Hochzeit, in Restaurants oder Bars. Wenn sie Glück hat und ihr feuriger Vortragsstil gefällt, regnet es Dirham-Scheine auf sie herab. Hat sie Pech, werden die Männer zudringlich, begrapschen sie – oder Schlimmeres.
Das macht der Anfang schmerzhaft deutlich. Da singt Touda bei einer improvisierten Party unter freiem Himmel für ein halbes Dutzend Kunden, die kräftig bechern. Kaum ist die Dunkelheit hereingebrochen, muss sie durchs Unterholz fliehen, wird eingeholt und vergewaltigt. Weder kann sie ihre Peiniger anzeigen noch offen mit jemandem darüber reden: Als Frau am Rande der Gesellschaft – halb geduldet, halb verachtet – ist sie nahezu rechtlos. Zumindest weiß sie sich notfalls mit einem zupackenden Griff zwischen die Schenkel ihres Gegenübers zu wehren.
Desillusionierung in der Metropole
Touda träumt davon, nach Casablanca zu gehen, um mit echter Aïta auf der Bühne zu reüssieren. Dort locken glamouröse Etablissements; dort könnte sie ihren Sohn auf eine Gehörlosen-Schule schicken, damit er die Gebärdensprache lernt. Doch zwischenzeitlich muss sie ihn bei ihren Eltern unterbringen, so verständnisvollen wie mittellosen Bauern. Dann wagt sie sich allein in die Millionenmetropole, findet ein erstes Engagement, verliert es wieder – und bekommt zufällig die Chance auf einen großen Auftritt. Der verläuft allerdings völlig anders als erhofft.
Die fortschreitende Desillusionierung einer Unterhaltungskünstlerin könnte etwas vorhersehbar wirken, würde sie nicht von Nisrin Erradi mitreißend verkörpert. Sie ist in beinahe jeder Einstellung zu sehen: Mit ihrer unbändigen Energie trägt sie den gesamten Film. Toudas Horizont und Wortschatz mögen beschränkt sein, aber das macht sie mehr als wett durch atemberaubendes Minenspiel, das zwischen feinsten Seelenregungen und jähen Gefühlsausbrüchen changiert. Im Umgang mit ihrem Liebhaber (Lahcen Razzougui) – einem Verkehrspolizisten, der um Schäferstündchen buhlt – hat sie jederzeit die Hosen an.
Glaubwürdiger Befreiungsschlag
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Déserts – Für eine Handvoll Dirham" – schwarzhumoriges Road-Movie aus Süd-Marokko von Faouzi Bensaïdi
und hier einen Beitrag über den Film "Much Loved" – Gruppen-Porträt von drei Prostituierten in Marokko von Nabil Ayouch
und hier eine Besprechung des Films "Das Blau des Kaftans" – subtil homoerotisches Dreiecks-Drama in Marokko von Maryam Touzani.
“Casablanca Beats” (2021) begleitete Jugendliche, die in einem Kulturzentrum lernen, sich mit Hip-Hop auszudrücken. Dazu schrieben Ayouch und Touzani gemeinsam das Drehbuch, ebenso wie für “Alle lieben Touda”. Vielleicht liegt es an ihrem Anteil am Skript, dass dieser Film jederzeit die Balance hält zwischen ausgelassenem Nachtleben, das man kaum in einem muslimischen Land vermuten würde, und feinsinniger Charakterzeichnung. Wenn Touda am Ende den Filmtitel Lügen straft, verstört das – doch man glaubt ihr sofort, dass sie ihrem Befreiungsschlag gewachsen ist.