
Glühende Hitze liegt über Marseille; 46 Grad im Schatten sagt die Radio-Nachrichtensprecherin voraus. Alle Menschen werden aufgefordert, in ihren Wohnungen zu bleiben. Nur wer einen schattigen Balkon hat, ist fein raus. So wie Nicole (Sanda Codreanu) und ihre Mitbewohnerin Ruby (Souheila Yacoub): Die eine strebt eine Karriere als Schriftstellerin an, die andere stellt ihren Körper als Camgirl übers Internet aus.
Info
Balconettes
Regie: Noémie Merlant,
104 Min., Frankreich 2024;
mit: Noémie Merlant, Souheila Yacoub, Sanda Codreanu, Lucas Bravo
Weitere Informationen zum Film
Voyeuristisches Abenteuer
„Balconettes“ ist Merlants zweite Regiearbeit; das Drehbuch entstand in Zusammenarbeit mit Sciamma, die auch als ausführende Produzentin fungierte. Und in diesem überdrehten Genre-Mix geht es nicht nur in Sachen Außentemperaturen heiß her. Schon bald teilen die drei Freundinnen das Interesse an Nicoles neuestem voyeuristischen Abenteuer: Sie hat sich aus der Distanz in den attraktiven Modefotografen (Lucas Bravo) verguckt, der seit kurzem im Haus gegenüber wohnt und gern in seinem Fenster über dem Hof posiert.
Offizieller Filmtrailer
Blutiges Ende einer Nacht
Während Nicole sich jedoch nicht traut, ihn anzusprechen, flirtet Ruby unerschrocken drauf los. Kaum hat sie mit ihm die Telefonnummern und ein paar Textnachrichten ausgetauscht, sind die Frauen zu einem Stelldichein in der Junggesellenbude des gutaussehenden Fremden eingeladen. Was sich dort im Lauf der Nacht genau abspielt, bleibt zunächst im Dunkeln. Doch als Ruby morgens blutverschmiert in ihrem Bett aufwacht, deutet alles auf ein Verbrechen hin.
Ein Blick auf den Tatort bestätigt den Verdacht: Die Leiche des Casanovas hängt in seinem Wohnzimmer leblos von der Decke, der Penis fehlt – die Szenerie erinnert an einen schlechten Horrorfilm. Kurz stehen die Frauen unter Schock, dann macht sich Panik breit. Eifrig bemühen sie sich, sämtliche Spuren zu verwischen; vor allem muss der Tote weg.
Ausgeprägter Sinn fürs Visuelle
Merlant beweist in „Balconettes“ einen ausgeprägten Sinn für das Visuelle: Bereits in der Eröffnungssequenz ihrer fröhlich-gruseligen Satire gleitet die Kamera elegant von der Luft aus über die Balkone und Häuserwände des städtischen Wohnblocks hinweg, in dem ihre Protagonistinnen leben. Dabei fängt die Regisseurin kleine Schnipsel verschiedener Lebensgeschichten der Nachbarn ein – darunter ein Exempel häuslicher Gewalt und Rache, das einen Vorgeschmack auf das Kommende gibt.
Gleichzeitig bestimmen kräftige Farben und ein ausbalanciertes Wechselspiel zwischen Hysterie und Schwermut die Inszenierung. In Merlants Bildern steckt mehr als nur ein Hauch von Pedro Almodóvars meisterhaftem Gefühlskino. Dabei nutzt die Regisseurin diverse Rückblenden und imaginäre Szenen, um die tatsächlichen Ereignisse zu rekonstruieren oder zu verzerren. Alptraumhafte Halluzinationen, die nur in Nicoles ängstlich verwirrter Einbildung existieren, geben derweil unmissverständlich Aufschluss über die Botschaft des Films.
Plakativer Umgang mit Sexismus
Mit brutaler Klarheit wird das gesamte Spektrum männlichen Fehlverhaltens vorgeführt, von anzüglichen Bemerkungen bis hin zu sexueller Gewalt. In einer Szene wird Nicole in ihrer Fantasie von einem Chor männlicher Geister bedrängt, die aus Rache für ihre missbräuchlichen Handlungen ermordet wurden. Jetzt müssen sie in der Vorhölle verharren, bis sie die Verantwortung für ihre Taten übernehmen.
Derart plakativ werden auch an anderen Stellen Themen wie Frauenfeindlichkeit und Sexismus behandelt, wodurch der Film streckenweise wie eine bloße Aneinanderreihung von Klischees wirkt. Von Co-Autorin Céline Sciamma, einer der wichtigsten Vertreterinnen des aktuellen französischen Autorenfilms, wäre mehr zu erwarten gewesen als Drehbuch-Sätze wie „Wir können nur unter uns wir selbst sein“.
Albern-chaotischer Krimiplot
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Woman in the Window" – Mystery-Psychothriller-Adaption, Hommage an Alfred Hitchcocks „Fenster zum Hof“ (1954) von Joe Wright
und hier eine Besprechung des Films "Porträt einer jungen Frau in Flammen" – wunderbar nuancierter Historienfilm über lesbische Affäre von Céline Sciamma mit Noémie Merlant
und hier einen Beitrag über den Film "Last Night in Soho" – popkultur-affine Horror-Komödie im Swinging-Sixties-London von Edgar Wright.
Überzeugender als der alberne und chaotische Krimiplot, der die Handlung vorantreibt, wirkt Élises Schicksal: Sie ist schwanger geworden, weil ihr Freund Paul, der sich ein Kind wünscht, absichtlich ohne Kondom in ihr abgespritzt hat. Doch Élise will Karriere machen, nicht Mutter sein. Jetzt muss sie mit einer Abtreibung klarkommen; leicht fällt es ihr nicht.
Raum für Unbehagen und Nuancen
In diesen Momenten spielt Merlant eindringlich und sensibel. Als Regisseurin gibt sie in längeren Einstellungen ihrer Figur Raum zum Atmen und sorgt mit desorientierenden Kameraperspektiven gleichzeitig dafür, dass ein Unbehagen entsteht. Mehr solcher nuancierten Momente hätten dem Film gut getan.