Jia Zhangke

Caught by the Tides

Nach Bins Verschwinden macht sich Qiaoqiao (Zhao Tao) auf die Suche nach ihm. Foto: © kinofreund eG 2025
(Kinostart: 15.5.) Recycling aus der Restekiste: An zwei Jahrzehnte altes Filmmaterial stückelt Regisseur Jia Zhangke neu gedrehte Aufnahmen an. Für einen banalen Geliebtensuche-Plot, durch den Zhao Tao als stumme Hauptdarstellerin irrt – so demontiert Chinas wohl bedeutendster Autorenfilmer sein Denkmal.

Für alternde Regisseure muss die Versuchung eines Selbstplagiats groß sein: Warum nicht einen Zweitaufguss dessen fabrizieren, was schon einmal funktioniert hat? Das machen Musiker oder Literaten schließlich auch. Zudem sind Spielfilme eine äußerst redundante Kunstform: Wie bei einem Eisberg stellt das fertige Ergebnis nur die sichtbare Spitze dessen dar, was zuvor dafür hergestellt worden ist. Drehbücher werden oft umgeschrieben, Einstellungen viele Male gedreht, im Schnitt mehrere Versionen angefertigt, bevor eine von ihnen endlich ins Kino kommt. Da bietet sich Wiederverwendung geradezu an.

 

Info

 

Caught by the Tides

 

Regie: Jia Zhangke,

111 Min., China 2024;

mit: Zhao Tao, Li Zhubin, Pan Jianlin, Lan Zhou

 

Weitere Informationen zum Film

 

Während die meisten Regisseure Selbstzitate eher kaschieren, geht Jia Zhangke die Sache offen an. Sein neues Werk „Caught by the Tides“ besteht überwiegend aus alten Aufnahmen, die er vor Jahrzehnten gedreht hat. Meist wohl für seinen Film „Still Life“, mit dem er 2006 beim Festival in Venedig den Goldenen Löwen gewann; es war sein internationaler Durchbruch. Seither gilt er als der neben Zhang Yimou bedeutendste Autorenfilmer Chinas.

 

Dammbau als Symbol für Turbo-Modernisierung

 

„Still Life“ beeindruckte vor allem durch seine Landschafts-Panoramen aus der Region um den Drei-Schluchten-Damm. Die gigantische Anlage mit dem größten Wasserkraftwerk der Welt wurde von 1995 bis 2012 errichtet; ihre Talsperre staut einen rund 660 Kilometer langen See auf. Dadurch verschwand ein riesiges Gebiet der malerischen Schluchten, durch die der Jangtsekiang hier fließt, für immer unter den Fluten – ein einprägsameres Bild für Chinas Turbo-Modernisierung lässt sich kaum denken.

Offizieller Filmtrailer


 

Erratische Szenen, langatmig ausgewalzt

 

Die Handlung, die Regisseur Jia dort ansiedelte, war eher schlicht. Ein Bergmann aus der Kohle-Provinz Shanxi reist in die Stadt Fengjie, um seine Frau wiederzufinden, die ihn vor 16 Jahren verlassen hatte. Parallel dazu kommt die Krankenschwester Shen Hong (Zhao Tao) nach Fengjie, weil sie ihren vor zwei Jahren verschwundenen Ehemann Guo Bin sucht. Der ist in dieser Stadt zu Geld gekommen und hat eine Geliebte; daher will Shen Hong die Scheidung.

 

An diese beiden Protagonistin knüpft Jia Zhangke wieder an: mit damals gedrehten Bildern aus der Millionenstadt Datong in Shanxi. Recht willkürlich montierte Einstellungen, die in erratischer Folge um ein paar Schauplätze kreisen, etwa die Haupt-Einkaufsstraße von Datong oder ein abgewracktes Kulturhaus. Mit zusammenhanglosen Szenen, die langatmig ausgewalzt werden: Frauen singen sentimentale oder patriotische Lieder. Junge Leute tanzen unbeholfen in einer improvisierten Disko zu billigem Elektropop. Zhao Tao streift zwischen Abbruchhäusern umher oder paradiert auf der Straße als Werbe-Model für eine Schnapsmarke.

 

Actrice fétiche mit pokerface

 

Da wird ein Kurzinterview mit einem kettenrauchenden Gastronomen, der das verfallene Kulturhaus wieder in Betrieb genommen hat, zum dramaturgischen Höhepunkt. Denn die Hauptfigur Qiao, wie Zhao Tao nun heißt, bleibt stumm: Beharrlich schweigend läuft sie durch eine Szene nach der anderen. Mit ausdruckslosem pokerface, auf dem sich höchst selten der Anflug eines Lächelns abzeichnet. Dass Regisseur Jia sich daran nicht sattsehen kann, versteht sich: Beide sind verheiratet; er hat seiner actrice fétiche in neun Filmen die Hauptrolle gegeben.

 

Weniger Leinwand-Präsenz bekommt Li Zhubin, der schon in „Still Life“ den treulosen Gatten Guo Bin mimte. Nun heißt er einfach Bin, ist einer korrupten Geschäftsfrau verfallen und gibt Qiao den Laufpass: Auftakt zu ihrer wortlosen Such-Odyssee auf Fähren oder Ausflugsschiffen, die über die Wassermassen des Jangtse-Flusses gleiten. Ob all diese Szenen zwei Dekaden alt sind oder manches nachgedreht wurde, ist schwer zu entscheiden – und letztlich unerheblich. Alles erscheint wie footage, irgendwann probeweise aufgenommen und später zurecht beiseite gelegt.

 

Handlung von 2018 wiederverwendet

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Asche ist reines Weiß" – komplexe Mafia-Beziehungsstudie aus China von Jia Zhangke

 

und hier eine Besprechung des Films "A Touch of Sin" – schonungsloses Sozialdrama über Ausbeutung + Gewalt im heutigen China von Jia Zhangke

 

und hier einen Beitrag über den Film "Black Dog - Weggefährten" – brillant-skurrile Außenseiter-Parabel aus China von Hu Guan mit Jia Zhangke

 

und hier einen Bericht über den Film "Venezianische Freundschaft" – einfühlsames sino-italienisches Einwanderer-Drama mit Zhao Tao von Andrea Segre.

 

Eindeutig neu ist hingegen das letzte Drittel des Films: Der sichtlich gealterte Bin kommt zurück nach Datong, um Qiao aufzusuchen. Natürlich ist die Stadt kaum wiederzuerkennen: Aus bescheidenen Laden-Passagen wurden glitzernde Kauf-Paläste, statt Motor-Rikschas gleiten E-Autos über die Straßen, im Supermarkt berät ein Service-Roboter Qiao. Einziges Relikt der Vergangenheit ist Bin – und den lässt sie verständlicherweise abblitzen.

 

Tatsächlich recyclet Jia Zhangke nicht nur alte Aufnahmen, sondern auch die Handlung. In „Asche ist reines Weiß“ (2018), der ebenfalls in Datong spielt, sucht ebenso eine Frau namens Qiao (Zhao Tao) zwei Jahrzehnte lang nach ihrem Geliebten Bin, einem Gangsterboss. Was Regisseur Jia gleichfalls die Gelegenheit bietet, Chinas rasante Veränderung mit der Kamera einzufangen – allerdings am Beispiel einer Zweierbeziehung, die von inniger Komplizenschaft zu sprachloser Entfremdung mutiert. So wird die Gewalt der Umwälzungen auf persönlicher Ebene fassbar. Genau das fehlt „Caught by the Tides“.

 

Ohne Kontext nur Augenpulver

 

Für Chinesen mag dieser Bilderbogen nostalgische Qualitäten haben, im Sinne von „Weißt Du noch…?“. Dem übrigen Publikum erscheint es eher wie ein Stapel alter Fotoalben voller beliebiger Schnappschüsse in ermüdend ähnlichen Varianten. Womit Jia Zhangke zwei Stunden lang vorführt, wie essentiell für jede Art von Spielfilm der Kontext ist: Ohne ihn werden selbst ausgefeilte Kompositionen zu bedeutungslosem Augenpulver.