
Charles Aznavour (1924-2018) ist der neben Édith Piaf erfolgreichste Chansonnier des 20. Jahrhunderts. Seine Laufbahn strotzt vor Superlativen: Er hat mehr als 1000 Chansons geschrieben, davon 800 selbst interpretiert, rund 100 Schallplatten herausgebracht und etwa 200 Millionen Tonträger verkauft. In Frankreich gilt sein Œuvre als Kulturgut von nationaler Bedeutung.
Info
Monsieur Aznavour
Regie: Mehdi Idir + Grand Corps Malade,
134 Min., Frankreich 2024;
mit: Tahar Rahim, Bastien Bouillon, Marie-Julie Baup, Camille Moutawakil
Weitere Informationen zum Film
Beflissener Übereifer um Vollständigkeit
Ebenso erstaunt, wie lange die beiden Ko-Regisseure Mehdi Idir und Grand Corps Malade (GCM) – seit 1997 das Pseudonym des Poetry-Slammers Fabien Marsaud – daran gearbeitet haben. Eigenen Angaben zufolge sprachen sie über ihr Projekt noch mit Aznavour persönlich, legten es aber nach seinem Tod eine Weile beiseite, bevor sie es verwirklichten. Idir und GCM sind offenbar eingefleischte Fans: Das beflissene Bemühen, dem Idol gerecht zu werden, ist ihrem Film in jeder Minute anzumerken. Alle Personen und Wechselfälle, die in seinem Leben eine Rolle spielten, sollen gebührend gewürdigt werden – was stellenweise übereifrig erscheint.
Offizieller Filmtrailer
Piaf schickt Aznavour nach Montréal
Beginnend mit Aznavours Kindheit als Sohn armenischer Einwanderer, die dem Genozid 1915/16 entkommen waren. Sein Vater betrieb in Paris ein kleines Restaurant; in diesem Treffpunkt osteuropäischer Exilanten lernte Charles die Lieder und Musik ihrer Herkunftsländer kennen. Als Neunjähriger steht er erstmals auf einer Theaterbühne, bald hat er kleinere Engagements. Mit 17 Jahren freundet er sich mit dem Pianisten Pierre Roche (Bastien Bouillon) an; beide treten während des Zweiten Weltkriegs als Duo mit selbstverfassten Chansons auf.
Aznavour wäre wohl kaum weiter voran gekommen, hätte er nicht 1946 Édith Piaf (Marie-Julie Baup) kennengelernt. Sie nimmt ihn unter ihre Fittiche und das Duo als Vorgruppe mit auf eine Tournee. Als sie nach New York eingeladen wird, reisen beide ihr hinterher – und werden von ihr nach Montréal abgeschoben: Die Entertainer aus Paris sind im französischsprachigen Québec begehrt. Roche bleibt dort, doch der ambitionierte Aznavour kehrt nach Frankreich zurück. Für eine Solo-Karriere müsse er sich zwischen Familienglück und Rampenlicht entscheiden, schärft ihm Piaf ein. Was er tut: Acht Jahre lang wird er ihr als Sekretär, Chauffeur und Mädchen für alles dienen, bis er seine Mentorin verlässt.
Hauptdarsteller ist Opfer von Nasen-Prothese
Der Film lässt sich viel Zeit für Aznavours Anfänge, in der er seinen windungsreichen Weg mit bisweilen erschöpfender Genauigkeit verfolgt: Etliche Anzugträger tauchen auf, sagen ein paar Sätze und verschwinden wieder. Es geht meist um neue Chansons, höhere Gagen und bessere Auftrittsbedingungen; Roches zahlreiche Bettgespielinnen und verpasste Züge treten ebenso auf. Das wirkt einerseits verwirrend, andererseits gerade wegen des ständigen Wechsels von Akteuren und Schauplätzen recht gleichförmig.
Was auch an Hauptdarsteller Tahar Rahim liegt. Der französische Star-Schauspieler algerischer Herkunft ist eigentlich sehr wandlungsfähig, aber seinen Aznavour nimmt man ihm nicht ab. Eine Nasen-Prothese – der Sänger hatte einen enormen Zinken – lässt Rahim als Opfer von Plastilin und Botox erscheinen, dem jedes Lächeln zum schlumpfigen Olaf-Scholz-Grinsen missrät. Seltsam abgewinkelte Arme, die wohl auf Aznavours expressive Bühnen-Auftritte anspielen sollen, machen ihn zum Pinguin auf Landgang. Kein Wunder, dass die Presse Stimme und Gebaren des Nachwuchssängers verspottet.
Monotonie des Star-Daseins
Das ändert sich, als Aznavour Mitte der 1950er Jahre seinen Durchbruch erlebt. Inzwischen hat er auf Anraten Piafs seine Nase operativ verkleinern lassen – so dass Rahim nun seine eigene tragen darf, was seinem Minenspiel sehr zuträglich ist. Und der Sänger eilt fortan von einem Triumph zum nächsten auf immer größeren Bühnen, was dem Film gut bekommt. Liebevoll malt er Aznavours spektakulärste Tourneen in detailgetreuer Ausstattung aus; dabei deutet er an, was dessen Repertoire von anderen abhebt.
Klassisches Sentiment kombiniert er mit gewagten Alltagsbeobachtungen: 1956 beschreibt er in „Après l’amour“ ein Liebespaar nach dem Beischlaf, 1972 singt er in „Comme ils disent“ über Homosexualität, damals noch ein Tabu. Zugleich macht dieser Reigen aus ausverkauften Häusern, Blitzlichtgewitter und opulenten Residenzen deutlich, wie monoton Starsänger-Dasein sein kann: Ab Mittag Proben und Feilen an Arrangements, abends Konzert, zum Absacker in den Nachtclub, am nächsten Tag das Gleiche von vorn.
Engagement für armenische Heimat
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Aznavour by Charles" – eindrucksvolles Doku-Porträt des französischen Chansonniers von Marc di Domenico
und hier eine Besprechung des Films "Robert Doisneau – Das Auge von Paris" – Dokumentation über den Fotografen von Clémentine Deroudille
und hier einen Bericht über den Film "Paris Calligrammes" – detailverliebte Doku über französisches Kulturleben in den 1960ern von Ulrike Ottinger
und hier einen Beitrag über den Film "Maria by Callas" – Dokumentation aus Selbstzeugnissen der Opernsängerin von Tom Volf.
In der Melancholie dieser Schlussphase gelingt es den Regisseuren endlich, Empathie mit ihrer Hauptfigur zu wecken. Auch, indem sie – viel zu flüchtig – an sein Engagement für die armenische Heimat seiner Vorfahren erinnern: Nach dem verheerenden Erdbeben 1988 half er mit Geld und Taten. In Armenien wird er wie ein Nationalheld verehrt; die Hauptstadt Jerewan hat er mit einem nach ihm benannten Kulturzentrum bedacht.
Doku zeigt Persönlichkeit besser
Solche Bilder bewegen wie seine besten Kompositionen, von denen etliche zumindest ansatzweise zu hören sind. So wird „Monsieur Aznavour“ eher zum anschaulichen Epochen-Panorama der großen Zeit des französischen Chansons in den 1950er bis 1970er Jahren, dessen Hauptfigur jedoch als Charakter nicht so recht fassbar wird. Genauer: sein unbändiger Ehrgeiz schon, seine Kreativität weniger. Wer mehr über seine Persönlichkeit und sein schillerndes Privatleben wissen will, ist mit der Doku „Aznavour by Charles“ von 2019 besser bedient.