Berlin

Musafiri: Von Reisenden und Gästen

Anne Samat: "Wide Awake and Unafraid #3" (2025), handgewebte Wandskulptur, 670 x 365 cm. Courtesy Anne Samat. Fotoquelle: Haus der Kulturen der Welt (HKW), 2025, Foto: Hanna Wiedemann/HKW
Allzeit auf Achse: Das Haus der Kulturen der Welt zeigt zeitgenössische Werke nichtwestlicher Künstler, die sich dem Reisen widmen. Ein sinnespraller Reigen gegen geistige Provinzialität, zudem zugänglicher präsentiert als früher. Doch die besten Beiträge ignorieren das Thema souverän.

„Musafiri: Von Reisenden und Gästen“ ist die fünfte Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt (HKW) seit Beginn der Intendanz von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung vor zwei Jahren – und die bislang heiterste. Die Auftakt-Schau „O Quilombismo…“ war ein Kraftakt, der alles anders und besser machen wollte als zuvor, was man ihm auch ansah. Der Nachfolger „Als hätten wir die Sonne verscharrt im Meer der Geschichten…“ beleuchtete facettenreich ein trauriges Phänomen: die Unterdrückung und Zerstörung der Kulturen kleiner Völker auf dem Gebiet der Ex-Sowjetunion und des heutigen Russlands.

 

Info

 

Musafiri: Von Reisenden und Gästen

 

08.03.2025 - 16.06.2025

 

täglich außer dienstags 12 bis 19 Uhr

im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Berlin

 

Handbuch gratis, Reader 18 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

„Echos der Bruderländer“ über Migranten-Kunst in der früheren DDR litt 2024 darunter, dass ähnliche Ausstellungen mehr oder weniger zeitgleich in Leipzig, Dresden und Frankfurt/ Main gezeigt wurden. „Vergib uns unsere Schuld…“ ächzte Ende letzten Jahres unter der Bleischwere des Themas, von der Erbsünde bis zum universalen Verblendungszusammenhang.

 

Schmaleres Handbuch mit Lageplan

 

Dagegen kommt „Musafiri“ geradezu leichtfüßig daher. Beginnend beim Ausstellungstitel, der vom arabischen Begriff für Reisende abgeleitet ist: Endlich verzichtet das HKW auf ellenlange Benennungen, die sich keiner merken kann. Auch die Präsentation ist publikumsnäher. Zwar fehlen in der Schau weiterhin Bildlegenden mit Künstlernamen und Werktiteln. Doch das kostenlose Begleit-Handbuch, das jedem Besucher ausgehändigt wird, ist nur noch halb so dick früher, enthält nun aber einen mehrfarbigen Lageplan zum Ausklappen. Immerhin: Wer ihn konzentriert studiert, findet rasch heraus, was er sieht.

Impressionen der Ausstellung


 

Leichtes Gepäck für freien Kopf

 

Diese Benutzerfreundlichkeit haben sich die Autoren vielleicht bei Reiseführern abgeschaut. Oder sie ist dem Sujet geschuldet: Am besten reist man mit leichtem Gepäck ohne Ballast. Dann hat man den Kopf frei für überraschende Begegnungen, die diese Schau reichlich bietet. Zwar schlagen die Kuratoren einen großen Bogen: von heroischen Einzelreisenden seit dem Mittelalter über erzwungene Ortsveränderung durch Armut, Versklavung und Krieg bis zu heutigen Wanderungsbewegungen auf der Suche nach einem besseren Leben. Doch viele Beiträge sprengen diesen Reise-Rahmen – oft sind es die eindrucksvollsten.

 

Etwa die von Ena de Silva: Die 2015 verstorbene Künstlerin aus Sri Lanka bedruckte Stoffe in Batik-Manier. Zwei Dutzend ihrer meterlangen Banner und Wandbehänge füllen Freiflächen und Säulen im Foyer; ein farbenfroher Dschungel aus hinduistischen und buddhistischen Motiven des gesamten süd- und südostasiatischen Raums mit regionalen Akzenten. Für diesen „tropischen Modernismus“ reiste nicht ihre Schöpferin, sondern Bilder und Drucktechniken.

 

Hawaii-König in Holz-Reliefs

 

Ursprünglich stammt Batik aus Indonesien. Auf Bali lebt und arbeitet Citra Sasmita: Sie formuliert die traditionelle Kalamasan-Bildsprache feministisch um, indem sie Frauengestalten in den Mittelpunkt ihrer magisch-realistischen Kompositionen stellt. Da züngeln etwa Flammen oder wachsen Bäume aus den Hälsen von Enthaupteten, während Köpfe durch Haare zu einem fliegenden Reigen verflochten sind – fixiert auf edlen Bildträger-Textilien und von reich beschnitzten Bügeln herabhängend.

 

Eine reale Reise zeichnet dagegen Simon Soon aus Malaysia nach: 1881 besuchte Kalākaua, König von Hawaii, diverse Herrscher im asiatisch-pazifischen Raum, um eine malaiische Allianz gegen europäische Mächte und die USA zu schmieden – vergeblich. Fünf seiner Stationen hat Soon von philippinischen Holzschnitzern in Reliefs umsetzen lassen; ihre detailgetreue und zugleich idealisierende Machart erinnert an fürstliche Repräsentationskunst im Europa der Frühen Neuzeit.

 

Memorabilia-Museum des Lambada

 

Auch der Äthiopier Robel Tesmesgen folgt den Spuren eines legendären Reisenden: Der Mönch Abba Gorgoryos fuhr den Nil abwärts nach Europa, besuchte den Vatikan und erreichte Deutschland, bis er 1658 bei einem Schiffsunglück ertrank. Was er wohl mit sich führte? 36 mögliche Habseligkeiten platziert Tesmesgen in herkömmlichen Körben und Taschen aus Leder mit Muschelbesatz – eine ausladende Installation, die einer Bootsladung voller Gepäck gleicht.

 

Ohnehin sind die meisten Exponate voluminös; in der Fremde macht man am ehesten durch Masse auf sich aufmerksam. Am charmantesten gelingt das Carlos ‚Marilyn‘ Monroy aus Kolumbien mit seinem „Museum des Lambada“; dieses Lied und der passende Paartanz waren 1990 weltweit ein kurzlebiger Hit. Monroy hat etliche Memorabilia zusammengetragen, von Plattenhüllen über Videoclips bis zu Nippes – skurriler Nachlass einer Melodie, die um die Welt ging. Die Sammlung ist dem Straßenmusiker Chico Oliveira gewidmet: Unter seinem Namen soll das Lied registriert worden sein, ohne dass er es wusste oder jemals Tantiemen dafür erhielt.

 

Arabische Kalligrafie im Sino-Stil

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "O Quilombismo – Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff. Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien" nichteuropäische Gegenwartskunst im Haus der Kulturen der Welt, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Indigo Waves and Other Stories. Re-Navigating the Afrasian Sea and Notions of Diaspora" – zeitgenössische Kunst aus der Region des Indischen Ozeans im Gropiusbau, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Ferne Länder, Ferne Zeiten – Sehnsuchtsfläche Plakat" – facettenreiche Themenschau über Werbegrafik zu Tourismus-Anfängen im Museum Folkwang, Essen

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Von Istanbul bis Yokohama" über die “Reise der Kamera nach Asien 1839-1900” im Museum für Ostasiatische Kunst, Köln.

 

Im Internetzeitalter erreichen Popsongs im Nu alle Kulturräume. Was zu aberwitzigem crossover führt: Diane Severin Nguyen, Kalifornierin vietnamesischer Herkunft, hat die Akteurinnen ihres Videos „If Revolution is a Sickness“ über Youtube und Instagram rekrutiert. Nun tanzen sie als Formation zu koreanischem K-Pop in Polen, etwa vor der Kulisse des stalinistischen Kulturpalastes in Warschau.

 

Gegen derlei schnelllebige Beliebigkeit richten sich die Exerzitien von Haji Noor Deen Mi Guangjang. Der Angehörige der muslimischen Minderheit in China praktiziert Sini-Kalligrafie, definiert als „arabische Kalligrafie im traditionellen chinesischen Stil“. Um ihn zu verfeinern, reiste er jahrelang durch Kuwait, Ägypten und die Türkei – Wanderjahre eines Schreib-Gesellen. Seine Arbeiten wirken auf westliche Augen so attraktiv wie hermetisch; die schwungvollen Bögen und Zeichen zeugen von abstrakt anmutender Harmonie.

 

Monumental-Totem beherrscht alles

 

All das verblasst aber vor einer fast sieben Meter hohen und vier Meter breiten Skulptur an der Wand. Ausgreifend beherrscht sie den Raum wie ein überdimensionales Totem. Anne Samat aus Malaysia hat dafür Tausende von Kleinteilen wie Stöcke, Perlen, kleine Plastikschwerter und Küchenutensilien miteinander verknüpft oder verwoben.

 

Das Ergebnis trägt den Namen „Wide Awake and Unafraid #3“ („Hellwach und Furchtlos Nr.3“) – so kryptisch wie die ganze Komposition. Auch den Kuratoren fällt kein Bezug zum Thema ein; dennoch wollten sie auf diesen monumentalen Blickfang wohl nicht verzichten. Zurecht: Die aufregendsten Reisen laufen doch beim Anblick des Erhabenen im eigenen Kopf ab.