
Es beginnt mit Wolken am Himmel: zart hingetupften Wattebäuschen vor blauem Grund. Unterlegt von einer Stimme, die sich ausmalt, wie ihr Wesen in den Wolken enthalten sei; diese Stimme gehört Johanne (Ella Øverbye). Die 17-jährige Gymnasiastin hat sich in ihre neue Französisch-Lehrerin Johanna (Selome Emnetu) verliebt. Sie ist eigentlich Textilkünstlerin und eine Quereinsteigerin im Schulbetrieb mit offenbar äthiopischen Wurzeln, was aber nicht weiter thematisiert wird.
Info
Oslo-Stories: Träume
Regie: Dag Johan Haugerud,
110 Min., Norwegen 2024;
mit: Ella Øverbye, Selome Emnetu, Ane Dahl Torp, Anne Marit Jacobsen
Weitere Informationen zum Film
Flauschig weiche Hygge-Welt
Dann findet sie einen Kniff, ihrer Lehrerin nahe zu sein. Sie simuliert Interesse am Stricken, Johanna bietet ihr an, es ihr beizubringen – und schon kommt sie einmal wöchentlich in deren Apartment. Das schicke Loft in einem Stahl-Glas-Kasten ist mit lauter Kissen, Decken, Vor- und Wandbehängen als kuschlige Wohnhöhle eingerichtet. Ohnehin hat Regisseur Dag Johan Haugerud den ganzen Film als flauschig weiche Hygge-Welt ausgestattet, in der Frauen in dicken Wollpullis und Schals – Männer kommen bis auf einen Therapeuten kurz vor Schluss nicht vor – sich mit Vorliebe auf Sofas und Betten rekeln oder einrollen.
Offizieller Filmtrailer
Erst Missbrauchs-Angst, dann Debüt-Werk
Doch lange kann es sich Johanne nicht bei ihrer Lehrerin gemütlich machen. Als diese merkt, was ihre Schülerin zu ihr führt, ist Schluss mit Strick-Unterricht, bis auf ein paar Verlegenheits-SMS zum Ausklang. Johanne schreibt sich ihren Liebeskummer von der Seele, schmückt ihn mit erotischen Fantasien aus – und gibt nach einem Jahr das Konvolut ihrer Großmutter zu lesen, einer einst erfolgreichen Schriftstellerin. Wissend, dass ihr schmerzlich schönes Geheimnis damit perdu ist: „Lässt Du andere in Deine Gedanken und Träume, zerbröckelt und verändert sich alles.“
Oma Karin (Anne Marit Jacobsen) ist von der literarischen Qualität des Manuskripts beeindruckt. Sie reicht es an ihre Tochter Kristin (Ane Dahl Torp) weiter, die sich schockiert zeigt – weil sie fürchtet, Johanne sei missbraucht worden. Bis die Aussicht, der Text könne zum ersten literarischen Werk ihrer Tochter werden, ihren Ehrgeiz weckt; tatsächlich übernimmt es Karins Verlegerin, daraus ein Buch zu machen. Was bei der Großmutter, die seit Jahren nichts mehr veröffentlicht hat, spürbar Neidgefühle weckt – und bittersüße Erinnerungen an längst verblasste Leidenschaften.
Wie bei Proust und Rohmer
So universell Rausch und Kater der ersten Liebe sind, so selten sind derartige Darstellungen geworden. Ihren Ursprung haben sie in der literarischen Empfindsamkeit und Romantik, deren Protagonisten sich unentwegt emotional den Puls fühlten; diese Seelenzergliederung beherrschte Marcel Proust (1871-1922) in Vollendung. Im Autorenkino hat vor allem Éric Rohmer (1920-2010) solche Introspektion kultiviert – allerdings meist in überbordenden Dialogen, bei denen die Sprecher sich ihre Gefühle so wortreich an den Kopf werfen, bis sie kaum noch wissen, wo er ihnen steht.
Dagegen erzählt Dag Johan Haugerud alles konsequent aus dem Blickwinkel seiner Hauptfigur. Erleben und Weltsicht einer 17-Jährigen trifft er mit so delikatem Feingefühl, dass man wirklich meint, ein Backfisch trage sein Tagebuch vor. Zumal Ella Øverbye es jederzeit beglaubigt: Mit minimalem Minenspiel drückt sie alle Nuancen verschmähter Liebe zwischen schwärmerischem Begehren, mürrischem Unverstandensein und herzzerreißendem Leid aus.
Siegerfilm aus saturierter Komfortzone
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films der Tragikomödie "Der schlimmste Mensch der Welt" – eigenwillige Coming-of-Age-Tragikomödie aus Oslo von Joachim Trier
und hier eine Besprechung des Films "In ihrem Haus" – raffiniertes Verwirrspiel über ein fatales Lehrer-Schüler-Verhältnis von François Ozon
und hier einen Beitrag über den Film "Le Rayon vert – Das grüne Leuchten" – charmante Sittenkomödie über unerfülltes Liebessehnen von Éric Rohmer, prämiert mit dem Goldenem Löwen 1986.
Vielleicht weist dieses Teenager-Porträt damit über sein privates Sujet hinaus. In den vergangenen Jahren siegten im Berlinale-Wettbewerb meist Filme über Reizthemen und Minderheiten-Probleme: Dokus über Raubkunst-Restitution (“Dahomey”, 2024), Psychiatrie (“Auf der Adamant”, 2023) und Mittelmeer-Flüchtlinge (“Seefeuer”, 2016) oder Dokudramen über den Ruin von Kleinbauern (“Alcarràs – Die letzte Ernte”, 2022), ressentimentgeladene Denunziation (“Bad Luck Banging or Loony Porn”, 2021) oder Strategien gegen sexuelle Frustration (“Touch Me Not”, 2018).
Spiegel für Autorenkino-Publikum
Dagegen ist „Oslo-Stories: Träume” in der oberen Mittelschicht Westeuropas angesiedelt: aufgeschlossen und tolerant, ohne materielle Sorgen, kunstsinnig und literaturbegeistert. Also genau dem Milieu, das das Kernpublikum für Autorenkino oder Filmfestspiele stellt und seine Lebenswelt wie Seelennöte auf der Leinwand widergespiegelt sehen will. Das Pendel schwingt zurück.