
Ein Tabu-Thema? Das sagt sich leicht in unserer dauerpalavernden Mediengesellschaft, die alles bis zum Überdruss zerredet. Der kamerunische Filmemacher Appolain Siewe, der seit 1997 in Deutschland lebt, erfährt jedoch rasch, was es bedeutet, wenn etwas wirklich tabuisiert wird. Obwohl er eigens nach Kamerun geflogen ist, um mit seinem Vater über Homosexualität zu sprechen, lässt sich dieser verleugnen und schickt seinen Onkel vor.
Info
Code der Angst
Regie: Appolain Siewe,
82 Min., Kamerun/ Deutschland 2023;
mit: Lambert Marc Lamba, Alice Nkom, Basile Ndjio, Saskia Dietisheim, Claude Abé, Jean-Blaise Kenmogne
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Drei Jahre Haft für „Ich liebe Dich!“
Damit führt der Regisseur allmählich in das Sujet ein. Nach eigener Aussage heterosexuell, wurde Siewe durch Presseberichte über den Mord am Journalisten und LGBTQ-Aktivisten Eric Lembembe 2013 auf die in Afrika weit verbreitete Verfolgung von Homosexuellen aufmerksam. In vielen Ländern wird sie mit drakonischen Strafen geahndet, auch in Kamerun: Wegen einer SMS mit den Worten „Ich liebe Dich!“ an seinen Chef wurde ein junger Mann zu drei Jahren Haft verurteilt, die er absitzen musste.
Offizieller Filmtrailer
Oberschicht toleriert, Unterschicht jagt
Davon berichten Menschenrechts-Aktivistinnen wie die Anwältin Alice Nkom oder ihre Schweizer Kollegin Saskia Dietisheim von „Anwälte ohne Grenzen“: Ihre Mandanten seien nahezu schutzlos. Beim Vorgehen gegen sie würden selbst grundlegende Rechte missachtet, weil sich alle Beteiligten in ihrer Abscheu einig seien. Ähnlich krass fällt alltägliche Diskriminierung aus: Lembembes Freund Lambert Marc Lamba, der nach den Dreharbeiten verstarb, erzählt vom Fall eines jungen Schwulen, den seine eigene Familie im Elternhaus eingeschlossen an seinen Verletzungen krepieren ließ.
So drastisch das Problem geschildert wird, so mühsam verläuft die Suche nach den Ursachen. Siewe befragt mehrere kamerunische Akademiker; ihre Antworten fallen für westliche Begriffe recht allgemein aus. Anwältin Nkom, der Soziologe Claude Abé und Jean-Blaise Kenmogne, Pastor und Ex-Universitätsrektor, betonen den schichtspezifischen Umgang damit: In der Oberschicht werde Homosexualität toleriert, solange sie diskret auftrete – in der Mittel- und Unterschicht würden Betroffene erbarmungslos gejagt.
Präkoloniale homosexuelle Praktiken
Aber warum? Soziologe Abé spricht wolkig von der „eigenen kulturellen Verwurzelung“; das „traditionelle Modell der Sexualität in Kamerun vor der Kolonisation“ sei „die Heterosexualität“ gewesen. Dem widerspricht der Anthropologe Basile Ndijo, indem er auf einen Expeditionsbericht des deutschen Forschungsreisenden Günther Tessmann von 1913 verweist; dieser hatte eingehend die Kultur der Fang im südlichen Kamerun studiert.
Demnach waren homosexuelle Aktivitäten bei den Fang weit verbreitet, so Ndijo: Um ihre Kampfkraft zu bewahren, sei Kriegern zeitweise der Geschlechtsverkehr mit ihren Frauen untersagt gewesen. Zudem gab es magische Erziehungs-Praktiken, die mit der Päderastie im antiken Griechenland vergleichbar waren: Beispielsweise hätten Männer in den Mund von Knaben ejakuliert oder Frauen durch Genitalkontakt Körperflüssigkeiten ausgetauscht, um Kräfte und Kompetenzen weiterzugeben. Aber das waren nach heutigen Maßstäben soziale oder pädagogische Interaktionen, keine sexuellen.
Schwulsein ist was für Weiße
Erst die christliche Missionierung während der Kolonialzeit ab 1884 habe eine rein heterosexuelle Moral durchgesetzt, ergänzt Ndijo – bis heute: Siewe besucht den Gottesdienst eines Erweckungspredigers, der in flammenden Worten gegen das sündige Treiben von Schwulen und Lesben wettert. Solche Klerikal-Homophobie findet sich heutzutage überall in Schwarzafrika; doch weshalb fällt sie auf fruchtbaren Boden in Gesellschaften, die vor 100 Jahren noch viel freizügiger waren?
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Die Wunde" – beeindruckendes Homophobie-Drama aus Südafrika von John Trengrove
und hier eine Besprechung des Films "Call Me Kuchu" – Doku über Homophobie + Gay Pride in Uganda von Katherine Fairfax Wright + Malika Zouhali-Worrall
und hier einen Beitrag über den Film "Rafiki" – lebendiges Coming-out-Drama über lesbische Liebe in Kenia von Wanuri Kahiu
und hier einen Artikel über den Film "Omen (Augure)" – bildgewaltiges Drama über die Stigmatisierung angeblich 'verfluchter' Angehöriger durch ihre Familien in Afrika von Baloji
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Homosexualität_en" – umfassende LGBTQ+-Themenschau im Deutschen Historischen Museum + Schwulen Museum, Berlin.
Sexuelle Perversion, nicht Orientierung
Damit wird Homophobie zum Vehikel der Emanzipation vom westlichen Wertesystem – um den Preis, dass Afrikaner nun eine reaktionär-repressive Sexualmoral vertreten, die im Westen in den letzten 50 Jahren sukzessive abgebaut worden ist. In diesem Ringen bleibt aber etwas Entscheidendes auf der Strecke. Fast alle Gesprächspartner von Siewe betrachten Homosexualität implizit als dekadente Praxis oder Perversion, der man frönen oder von der man lassen könne – ähnlich wie evangelikale Sekten glauben, man könne Schwule von ihrer Verirrung heilen.
Keiner von ihnen geht davon aus, dass Homosexualität eine – vermutlich biologisch bedingte – sexuelle Orientierung wie alle anderen ist, was den Anspruch von LGBTQ-Personen auf völlige Gleichberechtigung legitimiert. Dieser schlichte Gedanke hat gegen allgegenwärtige Ressentiments keine Chance. Auch Filmemacher Siewe dringt nicht bis zu ihm vor. Solange erotisches Begehren ein Zankapfel im Kulturkampf um mentale Dekolonialisierung bleibt, wird sich wohl auch an diesem Tabu-Thema nichts ändern.