
Sébastien (Jean-Charles Clichet) ist Betreiber eines Sägewerks und Teilzeit-Politiker. Seine Ambitionen sind dabei weitaus größer als das Dorf, dem er als Bürgermeister vorsteht. Zwar spielte das bretonische Paimpont schon in der Sagenwelt von König Artur eine Rolle. In der Gegenwart hat der Ort jedoch Probleme, die für strukturschwache Regionen allzu typisch sind: etwa Landflucht und Arbeitslosigkeit – kurzum: mangelnde Perspektiven.
Info
Die Barbaren –
Willkommen in der Bretagne
Regie: Julie Delpy,
101 Min., Frankreich 2024;
mit: Sandrine Kiberlain, Laurent Lafitte, Ziad Bakri
Weitere Informationen zum Film
Bloß nichts Falsches sagen!
Schließlich beabsichtigt sogar ein TV-Sender, über die Neuankömmlinge zu berichten. Der Zuschauer lernt die Dorfbewohner in den ersten Filmminuten dann auch erst einmal so kennen, wie sich vor der Fernsehkamera präsentieren: leicht gehemmt. Niemand will etwas Falsches sagen. Das jedoch soll sich bald ändern. Denn das Integrations-Projekt kommt ins Wanken, als statt der angekündigten Ukrainer eine syrische Familie eintrifft, die Fayads.
Offizieller Filmtrailer
Bilderbuchfamilie statt Barbaren
Ukrainer waren bei aufnahmewilligen Gemeinden derart begehrt, dass bereits alle untergebracht sind. Schnell kochen im Ort wilde Phantasien und antimuslimische Ressentiments hoch. Bei der Ankunft in ihrem neuen Zuhause erwartet die Familie eine wüste Beschimpfung. „Dehors les barbares“ („Raus mit den Barbaren“) steht plötzlich an dem Haus, das man gerade noch für sie renoviert hatte.
Zwar entpuppen sich die Fayads als hoch qualifizierte, integrationsfreudige Vorzeige-Migranten, doch ihre Annäherung an die Einheimischen führt immer wieder zu Momenten des Fremdschämens. Ein wiederkehrendes Motiv sind Stereotype, die den Blick auf die Realität verstellen. Wieso, fragt etwa ein Dorfbewohner, tragen diese syrischen Frauen kein Kopftuch? Handelt es sich vielleicht gar nicht um Syrer, sondern um Roma? Diese Vorstellung macht wiederum den Besitzer des Supermarkts nervös.
Cartoonhafte Figurenzeichnung
Leider wird das komische Potenzial der Ausgangssituation dadurch untergraben, dass die Regisseurin Julie Delpy selbst zu sehr auf Stereotype setzt. Die Figurenzeichnung wirkt vorhersehbar, bisweilen cartoonhaft. Etwa bei besagter Lehrerin, die mit progressivem Sendungsbewusstsein ihre Einsamkeit kompensiert, oder ihrer stets angetrunkenen Freundin Anne (Sandrine Kiberlain), die von ihrem Mann betrogen wird. Trotzdem redet sie ihm nach dem Mund.
Dann gibt es da noch den ewig grantelnden Opa; einen Biobauern, der mit allen über Kreuz liegt. Was bei Delpys früheren Regiearbeiten, etwa „2 Tage Paris“ (2007) und „2 Tage New York“ (2012) durchaus funktionierte – Klischeevorstellungen über Franzosen und US-Amerikaner lustvoll aufeinander prallen zu lassen – geht diesmal nicht auf. Dabei handelt es sich um den politischsten der sieben Filme, bei denen sie Regie geführt hat.
Irritierende Tonartwechsel
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "2 Tage New York" – franko-amerikanische Culture-Clash-Komödie von Julie Delpy
und hier eine Besprechung des Films "Ein Dorf sieht schwarz" – originell-charmante Culture-Clash-Komödie über Afrikaner in der französischen Provinz von Julien Rambaldi
und hier einen Bericht über den Film "Willkommen in den Bergen" – italienische Culture-Clash-Komödie über ukrainische Flüchtlinge in den Abruzzen von Riccardo Milani
und hier einen Beitrag über den Film "Heute bin ich Samba" – beschwingte Tragikomödie über illegale Einwanderer in Frankreich von Olivier Nakache + Eric Toledano.
Zudem irritieren die abrupten Wechsel der Tonlagen. So sollen die Fayads auf einer Kennlern-Party den Dorfbewohnern anhand privater Handy-Videos von ihrer Flucht und den Verhältnissen in Syrien berichten. Was Delpy, die auch das Drehbuch schrieb, mit dieser übergriffigen und grausamen Szene bezweckt, bleibt unklar: Geht es darum, dem Kinopublikum Hintergrundwissen zu vermitteln? Oder will sie kritisieren, wie viel Flüchtlinge über sich offenlegen müssen, um überhaupt geduldet zu werden?
Konfuses Wechselbad der Gefühle
Darüber nachzudenken, bleibt keine Zeit, denn der Abend endet unvermittelt in einer Gewaltorgie. Sogenannte „Identitäre“, mit denen sich Hervé eingelassen hat, verprügeln die Anwesenden – was in der nächsten Einstellung wiederum als Ausgangspunkt für zänkisches Geplänkel unter Eheleuten dient. Es ist ein bizarres, irritierendes Wechselbad der Gefühle.
Einerseits wirkt die Handlung dieser wohlmeinenden, aber konfusen Dramödie allzu vorhersehbar. Auf der anderen Seite scheint sie seltsam beliebig – es wirkt, als sei jede Idee, die bei einem ersten Brainstorming an die Tafel geschrieben wurde, später auch im Drehbuch gelandet. Doch die Umsetzung lässt zu wünschen übrig.