Giulia Louise Steigerwalt

Diva Futura

Moana Pozzi (Denise Capezza) ist eine berühmte Pornodarstellerin, deren Versuch, auch in der Politik erfolgreich zu sein, scheiterte. Foto: Busch Media Group
(Kinostart: 26.6.) Sexindustrie als Sittenkomödie und Sozial-Melodram: Aufstieg und Niedergang der wichtigsten Erotikmodel-Agentur im Italien der 1990er Jahre erzählt Regisseurin Giulia Louise Steigerwalt in zwei radikal unterschiedlichen Teilen – auf anarchisch-frivolen Spaß folgt zähe, redselige Agonie.

Allem Anfang wohnt ein Zauber inne, sogar in der Porno-Branche. Das suggeriert „Diva Futura“ – mit einer Beerdigung. Tinta, die Haus-Python in den Büroräumen der gleichnamigen Erotikmodel-Agentur, ist gestorben und wird von der Belegschaft ordentlich bestattet. Agenturchef Riccardo Schicchi (Pietro Castellitto) vergießt sogar ein paar Tränen – und sorgt dann dafür, dass Fotos vom Begräbnis sofort an alle Klatschblätter geschickt werden. Schlagzeilen sind in seiner Branche alles.

 

Info

 

Diva Futura

 

Regie: Giulia Louise Steigerwalt,

125 Min., Italien 2024;

mit: Pietro Castellitto, Denise Capezza, Barbara Ronchi

 

Weitere Informationen zum Film

 

Anfang der 1990er Jahre hat die Agentur, die Schicchi 1983 gemeinsam mit Ilona Staller gegründet hatte, den Sprung aus der Schmuddelecke ins Rampenlicht geschaft. Die Ungarin Staller, besser bekannt als Cicciolina, hat sich mit der Radioshow „Radio Luna“, provokanten Pornofilmen und freizügigen TV-Auftritten einen Namen gemacht. 1987 zieht sie für den „Partito Radicale“ ins italienische Parlament ein, wo sie gegen Prüderie und für Öko-Themen streitet. 1991 heiratet sie den US-Starkünstler Jeff Koons. Die Ehe zerbricht bald; ein erbitterter Sorgerechtsstreit um ihr gemeinsames Kind zieht sich jahrelang hin.

 

Pasta-Essen beim Porno-Dreh

 

Derweil ist Schicchi glänzend im Geschäft, trotz exzentrischer Vorlieben – in einem Büroraum hält er Dutzende von Katzen und Kaninchen – und turbulenter Geschäftsführung. Seine Sexfilme sind zwar hardcore, doch zugleich fantasievoll und kunterbunt ausgestattet. Und auf liebenswerte Weise amateurhaft: Wenn mittags die Pasta für das Filmteam fertig ist, werden dafür die Dreharbeiten unterbrochen. „Ich will verblüffen, nicht demütigen“, sagt Schicchi; die menschenverachtenden Methoden mancher Porno-Produzenten sind ihm zuwider. Lieber lässt er sein Personal als verführerische Stripperinnen in glamourösen „Diva Futura“-Nachtclubs auftreten.

Offizieller Filmtrailer


 

Darstellerinnen als Talkshow-Dauergäste

 

Dieses Glückskind, dem zeitweise alles zu gelingen scheint, spielt Pietro Castellitto unwiderstehlich charmant als schlaksigen und leicht verschusselten großen Jungen. Er führt sein Unternehmen wie eine pikante Pyjama-Party samt Wasserpistolen-Schlachten – und hat zugleich ein goldenes Händchen beim Füttern der Massenmedien. Seine Top-Darstellerinnen sind Dauergäste in den Trash-Talkshows der Privatsender von Silvio Berlusconis „Mediaset“-Holding; dort plaudern sie bereitwilig über Silikonbrüste, den Alltag am Pornodreh-Set und ihre Träume von Anerkennung ihrer Arbeit.

 

Konsequenterweise führt Regisseurin Giulia Louise Steigerwalt die vier wichtigsten Frauen in Schicchis Leben mit balkengroßen Zwischentiteln ein. Neben Cicciolina, die nach zehn Minuten verschwindet und nur als Racheengel widerkehrt, sind dies Moana Pozzi (Denise Capezza), in Italien als Pornostar ebenso populär. Sie tritt zwei Mal als Kandidatin für das Bürgermeisteramt von Rom an, scheitert beide Male  – und stirbt 1994 mit nur 33 Jahren an Leberkrebs.

 

Gatten-Schulden mit Pornos abtragen

 

Sowie die Ungarin Éva Henger (Tesa Litvan), die Schicchi heiratet; sie versucht sich ab 1997 gleichfalls als Pornodarstellerin, um Schulden ihres Gatten abzutragen. Aber vor allem Debora Attanasio (Barbara Ronchi) als seine Sekretärin, die das kreative Chaos organisiert; auf ihren als Buch veröffentlichten Erinnerungen basiert der Film. Doch der frivole Spaß ist nach einer Dreiviertelstunde vorbei.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Pleasure" – anschauliches Dokudrama über die US-Porno-Branche von Ninja Thyberg

 

und hier das Interview "Sex-Athleten bei Kampfsportarten" mit Ninja Thyberg + Sofia Kappel über den Film "Pleasure"

 

und hier eine Besprechung des Films "La Maison – Haus der Lust" – einfühlsam-realistisches Dokudrama über Bordellbetrieb aus weiblicher Sicht von Anissa Bonnefont

 

und hier einen Bericht über den Film "Hustlers" – Hochglanz-Tragikomödie über betrügerische Striperinnen von Lorene Scafaria mit Jennifer Lopez

 

und hier einen Beitrag über den Film "Loro – Die Verführten" – monumentales Biopic über Silvio Berlusconi von Paolo Sorrentino

 

und hier eine Kritik des Films "Jeff Koons: A Private Portrait" – schönfärberisches Porträt des US-Starkünstlers samt dem Sorgerechts-Streit mit Cicciolina von Pappi Corsicato.

 

In den folgenden 75 Minuten herrscht zermürbender Niedergang: des „Diva Futura“-Imperiums und aller Beteiligten. Der Diabetiker Schicchi landet mehrfach nach Schlaganfällen in der Klinik; jedes Mal ein Anlass für sentimentale, tränenselige Bekenntnisse und Aussprachen im telenovela-Stil. Und die eben noch florierende Firma wird durch Razzien, Beschlagnahmung und Verhaftungen zermalmt; wegen des Vorwurfs der Förderung und Ausbeutung von Prostitution. Beides – nicht die Prostitution selbst – ist in Italien verboten.

 

Praktisch ohne Nacktszenen

 

Warum die Justiz plötzlich zuschlägt, erklärt Regisseurin Steigerwalt ebenso wenig wie vieles andere. Sie hat das Drehbuch selbst verfasst, was wohl ein Fehler war: Mit einem halben Dutzend Zeitsprüngen binnen zwei Dekaden zerfasert sie das Beziehungsgeflecht, was Einfühlung in die Figuren verunmöglicht. Stattdessen tippt das Skript lauter Aspekte des Milieus an, ohne sie auszuformulieren: Eifersucht trotz Libertinage und Toleranz; erlittene Traumata bei manchen Porno-Akteuren, die sie mit Grenzerfahrungen überwinden wollen; ihre Neigung zu autoritären und gewalttätigen Denk- oder Verhaltensmustern und ähnliches. Da boten manche Vorgängerfilme über die Branche deutlich mehr.

 

Den kollektiven Katzenjammer nach rauschhaften Höhenflügen hat Paul Thomas Anderson 1997 in „Boogie Nights“ mit Mark Wahlberg in der Hauptrolle drastisch ausgebreitet. Wie heutzutage die Fließbandproduktion fürs Internet alle Beteiligten auslaugt, hat die schwedische Regisseurin Ninja Thyberg 2021 in „Pleasure“ geradezu aufreizend unspektakulär vorgeführt. Im Vergleich dazu wirkt „Diva Futura“ wie ein gefühlig-redseliges Erotik-Melodram – das obendrein praktisch ohne Nacktszenen auskommt, ähnlich wie die verquasselte Netflix-Miniserie „Supersex“ (2024) über den Werdegang des italienischen Pornostars Rocco Siffredi.