
Familienbande ist immer emotionsgeladen, bisweilen sogar explosiv. Insbesondere, wenn die Familie auf wenig mehr als einen einzigen Bruder zusammengeschrumpft ist. Der auch noch behauptet, immer für einen selbst da gewesen zu sein. Von klein auf, sagt er, habe man sich als Apachen gemeinsam gegen den Rest der Welt gestellt. Oder stimmt diese kindliche Winnetou- und Wildwest-Romantik gar nicht, und der ältere Bruder Mirko (Franz Pätzold) hat den jüngeren Kai (Louis Hofmann) stets für seine eigennützigen Zwecke ausgenutzt?
Info
Frisch
Regie: Damian John Harper,
98 Min., Deutschland 2024;
mit: Louis Hofmann, Franz Pätzold, Sascha Geršak
Weitere Informationen zum Film
Gelbes Laternenlicht im Regen
Folgerichtig spielt die Handlung meist nachts an Orten wie heruntergekommenen Wohngebieten, Gewerbehöfen und auf verwaistem Straßenland. Und es regnet vor gelbem Laternenlicht in Strömen, als Kai im Auto den Auftrag von Mirko annimmt, der endgültig nicht nur ihre Gemeinsamkeit, sondern auch sein Selbstbild auf die Probe stellen wird.
Offizieller Filmtrailer
Zweitfamilie Fabrik-Belegschaft
Als vergleichsweise heile Parallelwelt erweist sich da die Fleischverarbeitungs-Fabrik, in der Kai als Mittzwanziger gemeinsam mit seinem Onkel Andy (Sascha Geršak) arbeitet. Ihr Alltag ist blutig und anstrengend, aber die Belegschaft hält zusammen – es ist eine andere Großfamilie mit eigenen Fallstricken und Überraschungen. Andy hat sich auf jeden Fall immer um schon um Kai gekümmert; nach dem Tod ihrer Mutter hat er ihn und Mirko bei sich aufgenommen.
Doch gegen Mirkos grundsätzliche und stets gewaltbereite Feindseligkeit ist Andy nie angekommen – so ist er Kai auch jetzt keine wirkliche Hilfe. Getrieben von Kais innerem Monolog, einer etwas märchenonkelhaften Erzählstimme, und durch eine teils arg verschlungene Handlung mit vielen Zeitsprüngen entwickelt sich allmählich dessen Dilemma.
Das Häftlings-Geld ist weg
Am Tag, an dem die Story in den 1990er Jahren einsetzt, wird Mirko vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Dort landete er, weil er von Kai verraten worden war. Nicht aus Bosheit, sondern weil der sich nicht anders zu helfen wusste, wovon Mirko keinen Schimmer hat. Dennoch ahnt Kai, dass große Schwierigkeiten auf ihn zukommen.
Sein Verdacht ist begründet: Immerhin hat Mirko, bevor er in den Knast einfuhr, ihm viel Geld zur Aufbewahrung anvertraut. Doch Kais Lohn aus der Fleischfabrik reicht nicht aus, um seine Frau Ayse (Canan Kir) und ihre gemeinsame Tochter zu versorgen; also hat er den größten Teil der Summe ausgegeben, die Mirko ihm überantwortete – und nun keinen Plan, wie er es wiederbeschaffen soll.
Falle für Bruder schnappt nicht zu
Sicher ist nur: Mirko nimmt sich stets, was er will. Wenn er es nicht bekommt, sucht er nach Ersatz; das wird meist schmerzhaft. In Sicherheit wäre Kai nur, wenn Mirko tot wäre. Aber daran will er keinen Gedanken verschwenden; schließlich ist Mirko immer noch sein Bruder.
Bis Ayse ihrem Mann ein Ultimatum stellt: Kai solle sich entscheiden – für sie und ihr Kind. Also willigt er ein, Mirko mithilfe seines alten Freundes Selo (Zejhun Demirov), der mittlerweile für die Polizei arbeitet, eine Falle zu stellen. Doch die schnappt nicht so zu wie geplant; kurze Zeit später steht Mirko vor der Tür und will Vergeltung.
Achterbahnfahrt der Affekte
Hintergrund
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Dazu kommt Kais Glaube, als (Bluts-)Bruder in guten wie in schlechten Zeiten mit Mirko den vorgezeichneten Weg bis ans Ende gehen zu müssen – wie er es aus Karl-May-Verfilmungen der 1970er Jahre kennt. Nach dem Vorbild von zynisch-mörderischen Thrillern der 1990er Jahre wie „True Romance“ oder „Romeo is Bleeding“ (beide 1993) reizt der Regisseur die Achterbahnfahrt der Affekte zwischen brutaler Gewalt und Hoffnung auf Rettung voll aus.
Allerdings kann sich Harper am Ende offenbar nicht entscheiden, wohin das alles führen soll. So entlässt „Frisch“ den Zuschauer zwar aufgerüttelt durch die drastische Darstellung, aber mit mehr Fragen als Gewissheiten darüber, was real sein soll und was bloße Einbildung.