Basel

Medardo Rosso – Die Erfindung der modernen Skulptur

Medardo Rosso: Bambino malato, 1895, Museo Medardo Rosso, Barzio. Photo Credit: mumok / Markus Wörgötter. Fotoquelle: Kunstmuseum Basel
Schluss mit Monumenten aus Bronze: Der italienische Bildhauer Medardo Rosso übertrug den Impressionismus auf Skulpturen. Mit kleinen, unfertig wirkenden Plastiken aus Wachs und Gips, die ihm viel Anerkennung einbrachten – das Kunstmuseum richtet dem Meister flüchtiger Momente eine große Werkschau aus.

Soll das ein Gesicht sein? In der Plastik aus Wachs deuten sich Mund, Nase und Augen an. Vielleicht zeichnet sich auch ein Lächeln ab; vielleicht aber auch nicht. Die Konturen der Plastik „Ecce Puer“ („Seht das Kind“, 1906) von Medardo Rosso sind so vage, dass sie jeden Moment zu verschwimmen und sich in der amorphen Materie aufzulösen drohen.

 

Info

 

Medardo Rosso –
Die Erfindung der modernen Skulptur

 

 29.03.2025 - 10.08.2025

 

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,

mittwochs bis 20 Uhr

im Kunstmuseum Basel, St. Alban-Graben 16, Basel

 

Katalog 59 CHF

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Mit seinem anscheinend unfertigen Kopf eines Kindes hat der Künstler das Unmögliche versucht: etwas zu formen, was gar nicht Form sein will, zumindest keine endgültige oder vollendete. Stattdessen soll die Plastik eine flüchtige Bewegung einfangen – eine Momentaufnahme sein, wie man sie aus der Fotografie kennt. Warum macht ein Bildhauer so etwas? Warum hat sich Rosso nicht einfach darauf beschränkt, zu fotografieren? Ganz einfach: weil er die Bildhauerei als solche erneuern wollte.

 

Nur lebende Dinge

 

„Es gibt keine Malerei, es gibt keine Plastik, es gibt nur ein Ding, das lebt“, lautete Rossos Credo. Indem er es konsequent umsetzte, habe er den Kunstbetrieb seiner Zeit revolutioniert: So lautet die These der großen Retrospektive „Medardo Rosso – die Erfindung der modernen Skulptur“ im Kunstmuseum Basel; sie wurde zuvor im Wiener mumok gezeigt. 50 Skulpturen und 250 – zum Teil winzige – Fotografien und Zeichnungen des italienisch-französischen Bildhauers sind zu sehen; ergänzt um rund 80 Werke von anderen Künstlern, die Rosso mehr oder weniger beeinflusst haben soll.

Feature zur Ausstellung. © Kunstmuseum Basel


 

Keine monumentalen Briefbeschwerer

 

Ausgangspunkt ist die tiefe Krise, in der die Bildhauerei gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Augen vieler Zeitgenossen war. Baudelaire fand sie schon 1840 langweilig, weil sie hauptsächlich der Heldenverehrung diente und irgendwelche Persönlichkeiten auf den Sockel hob. Solche „monumentalen Briefbeschwerer“, wie Rosso sich ausdrückte, wollte er nicht machen – aber dennoch an Skulpturen festhalten und sie erneuern, wie die Impressionisten mit der Malerei.

 

Deren Ansatz faszinierte ihn: „Wir existieren nicht! Wir sind nichts als Lichtspiele im Raum“, war er überzeugt. Doch was in der Malerei in flirrender und oft sehr dekorativer Farbigkeit daherkommt, wirkt in der plastischen Kunst weit weniger gefällig. Rossos Skulpturen wirken oft fast schon abstrakt und fordern den Betrachter heraus. Das dürfte einer der Gründe sein, warum der Bildhauer heutzutage wenig bekannt ist.

 

Drei Dekaden in Paris

 

1858 in Turin geboren, nahm der Italiener 1882 ein Studium in Mailand auf, musste die „Accademia di Belle Arti di Brera“ aber nach einer Schlägerei rasch wieder verlassen; fortan bildete er sich als Autodidakt weiter. Inspiriert von sozialistischen und anarchistischen Ideen trat er für eine grundlegende Erneuerung der Kunst ein und suchte dabei den Kontakt zu den Avantgardisten seiner Zeit.

 

1884 zog es ihn nach Paris; dort lebte er drei Jahrzehnte und freundete sich mit Schriftstellern wie Paul Valéry und Émile Zola sowie dem Künstler Amadeo Modigliani an. Auch mit Auguste Rodin, der ebenso wie er die Bildhauerei erneuern wollte, tauschte er sich intensiv aus. Bald nahm er erfolgreich an zahlreichen Ausstellungen teil, etwa 1904 am Pariser Herbstsalon, in dem auch viele Impressionisten vertreten waren. „Medardo Rosso ist zweifellos der größte lebende Bildhauer“, lobte ihn 1918 der prominente Kunstkritiker Guillaume Apollinaire. Vier Jahre später kehrte der Künstler 1920 nach Mailand zurück, wo er 1928 starb.

 

Augenblicks-Eindrücke armer Leute

 

Anfangs arbeitet Rosso hauptsächlich mit klassischen Materialien wie Bronze, wie die Ausstellung zeigt, doch nach einer Weile wechselt er zunehmend zu Wachs und Gips – Werkstoffen, die eigentlich für Studien und Vormodelle verwendet werden und denen etwas Provisorisches anhaftet. Genau das suchte Rosso: weiche, verletzliche Materialien, die den flüchtigen Charakter des festgehalten Augenblicks widerspiegeln und zugleich den Fertigungsprozess offenlegen. Dafür hinterließ der Bildhauer auf seinen Arbeiten ungeglättete Kanten, Fingerabdrücke, Messerspuren oder Gussnähte.

 

Dabei war die Zahl seiner Motive sehr begrenzt. Anstelle von bekannten Persönlichkeiten porträtierte er einfach und arme Menschen: eine Pförtnerin („Portinaia“, 1883/4), einen Kranken im Hospital („Malato all’Ospedale“, 1889), eine Kupplerin („Ruffiana“, 1883) oder einen Buchmacher („Bookmaker“, 1894). Und immer wieder Kinder: Unzählige Köpfchen durchziehen die Schau, von einer „Bambina ridente“ („Lachendes Mädchen“) und einem „Enfant malade“ („Krankes Kind“) bis zum „Enfant juif“ („Jüdisches Kind“ 1893). Rosso besaß einen Schmelzofen in seinem Atelier und produzierte viele seiner Plastiken in Serie, wobei er Oberflächen, Farben oder den Neigungswinkel eines Kopfes leicht variierte.

 

Nachfolger-Auswahl wirkt beliebig

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "En Passant: Impressionismus in Skulptur" – facettenreiche Themenschau mit Werken von Medardo Rosso im Städel Museum, Frankfurt am Main

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Courage: Lehmbruck und die Avantgarde" mit Werken von Medardo Rosso im Lehmbruck Museum, Duisburg

 

und hier eine Besprechung des Films "Auguste Rodin" – ausgezeichnetes Biopic über den Bildhauer als Begründer der Moderne von Jacques Doillon

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Begas – Monumente für das Kaiserreich" – Werkschau des führenden Neobarock-Bildhauers + Rodin-Rivalen im Deutschen Historischen Museum, Berlin.

 

Dieser mechanischen Reproduktion entsprechen Rossos Sequenzen von Fotografien. Mit der Kamera versucht er, Bewegung einzufangen und gleichzeitig seine Vorgehensweise zu dokumentieren – in unzähligen, teils winzigen und bewusst unscharfen Bildern. Die Kuratorinnen sehen darin einen experimentellen und medienübergreifendern Ansatz, der später bei der Pop-Art, der Video-Kunst oder Performances zum Tragen kommen sollte.

 

Zur Veranschaulichung ergänzen sie Rossos Werk um 80 weitere Exponate: Fotografien, Skulpturen, Videos und Installationen von der klassischen Moderne bis zur Gegenwartskunst. Darunter sind allerlei berühmte Namen wie Alberto Giacometti, Constantin Brâncuși und Henry Moore bis zu Francis Bacon, Bruce Nauman und Richard Serra – wobei die Auswahl streckenweise etwas beliebig wirkt.

 

Rundumschlag lockert Monotonie auf

 

Andy Warhols Siebdruck „Optical Car Crash“ von 1962 mag durchaus auch auf Rossos Vorbilder verweisen, ebenso die Skulptur „Child devored by Kisses“ (1999) aus Stoff, Garn, Holz und Edelstahl von Louise Bourgeois. Doch in etlichen Fällen wirkt der Bezug auf Rosso arg weit hergeholt.

 

Immerhin lockert dieser Rundumschlag durch moderne und zeitgenössische Kunst die Ausstellung auf; Rossos Plastiken und Fotografien wirken durch ihre Wiederholung ähnlicher Motive auf Dauer doch recht monoton. Zudem hat schon Rosso selbst seine Werke gemeinsam mit Arbeiten anderer Künstler präsentiert, etwa von Paul Cézanne und Auguste Rodin. Dennoch: Selbst mehr als 100 Jahren erstaunt und beeindruckt, wie seine oft spröde und improvisiert wirkenden Plastiken seine Zeitgenossen begeisterten und ihn damals zum Star-Künstler machten.