
Der Ausgangsgedanke von „The True Size of Africa“ ist bestechend einfach. Kartographen müssen stets die runde Gestalt des Globus in eine Fläche übertragen. Bei den meisten Projektionen werden die Pole übermäßig aufgefächert: So erscheinen Grönland und die Antarktis riesig, im Verhältnis dazu Regionen am Äquator wie Afrika oder Südamerika deutlich zu klein. De facto umfasst Afrika aber so viel Raum, dass die USA, China, Indien und halb Europa hineinpassen würden.
Info
The True Size of Africa
09.11.2024 - 17.08.2025
täglich 10 bis 19 Uhr
im Weltkulturerbe Völklinger Hütte, Rathausstraße 75 – 79, Völklingen
Engl. Katalog 55 €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Audioguides verbreiten Ohnmacht
Angefangen bei der Vermittlung einer enormen Menge an Informationen. Da zeitgenössischen Besuchern die Lektüre von Texten offenbar nicht mehr zuzumuten ist, werden ihnen an der Kasse Audioguides ausgehändigt; sie sollen vor jedem Exponat automatisch Erläuterungen abspielen. Doch wie das bei unausgereift avancierter Technik häufig so ist: Die nötigen Induktionsschleifen überlagern sich, man hört falsche Erklärungen oder gar nichts und kann es eigenhändig nicht ändern. Das passt: Ohnmacht angesichts von importiertem High tech ist eine panafrikanische Erfahrung.
Feature zur Ausstellung. © Euronews Culture
Gelungener Geschichts-Schnelldurchlauf
Der Rundgang beginnt mit einem „Museum of Memorability“: einem Schnelldurchlauf durch Afrikas Geschichte seit der Steinzeit bis heute. Der gelingt verblüffend gut; er tippt alle Aspekte von ersten Felszeichnungen über historische Reiche bis zur Kolonial- und Entkolonialisierung zumindest an. Überdies werden geschmeidig lokale Bezüge eingeflochten, etwa mit der Person des Paul von Lettow-Vorbeck. Geboren 1870 in Saarlouis, war er als Kolonialoffizier maßgeblich am Völkermord 1904 an den Herero und Nama im heutigen Namibia beteiligt; 1933 wurde er Mitglied der SA. Ob und wie man an ihn erinnern solle, war bis 2010 im Saarland umstritten.
Die eigentliche Ausstellung kommt dagegen mit Beiträgen von 26 Künstlern und Kollektiven aus; das sind nur halb so viele wie die Zahl souveräner Staaten in Afrika. Zudem hat die Hälfte von ihnen einen (Zwei-)Wohnsitz in Europa oder den USA, meist in den Kapitalen der früheren Kolonialmächte – verständlich: Das erleichtet ihnen den Zugang zum globalen Kunstbetrieb.
Animierte Scherenschnitte + Rollenspiel-Fotos
Manche sind längst weltbekannt: etwa der Südafrikaner William Kentridge. Sein vielschichtiges grafisches Werk wird im Herbst aus Anlass seines 70. Geburtstags in zwei großen Retrospektiven in Essen und Dresden gewürdigt. Oder Kara Walker, die gewaltgetränkte US-Geschichte in Scherenschnitt-Trickfilmen darstellt; hier angelehnt an den deutschen Stummfilmklassiker „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ von 1926.
Oder Zanele Muholi: Die non-binäre Südafrikanerin entzückt mit fantasievollen Rollenspiel-Fotoporträts das LGBTQ+-Publikum weltweit, gleich einer schwarzen Cindy Sherman. Oder Yinka Shonibare: Der in London wohnende Nigerianer stellt mit lebensgroßen Puppen in viktorianischer Kleidung Schlüsselszenen des Kolonialzeitalters nach.
Zwei Drittel für Kolonialismus
Was die einigende Klammer der Schau abgibt: Mehr als zwei Drittel der Exponate beschäftigen sich mit Kolonialismus und seinen Folgen. Nur wenige tun das so originell wie der Senegalese Omar Victor Diop: Für seine „Diaspora“-Serie aus Fotos von nachgestellten Porträtbildern schlüpft er in historische Kostüme, um Schwarze zu verkörpern, die einst außerhalb Afrikas eine bemerkenswerte Rolle spielten, aber weithin vergessen sind. Etwa Pedro Camejo (1790-1821), der als Leutnant im Unabhängigkeitskrieg von Großkolumbien, das von Peru bis Venezuela reichte, an vorderster Front focht. Oder Don Miguel de Castro, der als Botschafter eines kongolesischen Regionalkönigs 1643/4 in die Niederlande reiste.
Die meisten Beiträge bereiten jedoch Erwartbares auf. Sammy Baloji, dessen facettenreicher Film „Omen (Augure)“ 2024 in deutschen Kinos lief, montiert in „Aequare“ alte Archiv-Bilder eines früheren belgischen Agrar-Instituts im Kongo mit heutigen Aufnahmen: Kolonialstolz und -arroganz einst, Verfall jetzt. Sokari Douglas Camp aus Nigeria hat William Blakes berühmte Radierung „Europa, von Afrika und Asien gestützt“ (1796) als Skulptur nachgebildet: Nun tragen alle drei Grazien afrikanische Gewänder.
Nostalgie gekreuzt mit Narzissmus
Memory Biwa taucht für ihre Installation „Ozerandu“ Brocken aus Butterfett und Ockerstaub in rötliches Licht – das soll sowohl an Kolonialzeit-Bergbau in Namibia wie Hochöfen in Völklingen erinnern. Einen ähnlichen Brückenschlag nimmt Emeka Ogboh vor: Er lässt das „Steigerleid“ deutscher Kumpel in Übersetzung von einem namibischen Männerchor nachsingen. Am aufwändigsten ist die Fixierung auf Vergangenes bei Zineb Sedira: Sie hat Archive in Algier geplündert, um zahllose Memorabilia des dortigen „Panafrikanischen Festivals“ 1969 auszugraben – und häuft noch mehr Masse an, indem sie einen kompletten Nachbau ihrer Wohnung aufzubauen. Nostalgie gekreuzt mit Narzissmus.
Zu solchen Materialschlachten laden die weitläufigen Gefilde der Gebläsehalle geradezu ein. Am ärgsten aast damit der Kenianer Kaloki Nyamai: Ein halbes Dutzend seiner monströsen, frei hängenden Banner-Bilder füllt eine ganze Plattform, doch die vielfiguren Motive der „Dining in Chaos“-Serie bleiben hermetisch. Umgekehrt beeindrucken die 68 überlebensgroßen Porträts, die Roméo Mivekannin aus der Elfenbeinküste von der Decke baumeln lässt, durch ihre Banalität. Dem Betrachter lächeln lauter schwarze Idole entgegen, vom Bürgerrechtler W.E.B. Du Bois über Josephine Baker und Malcolm X bis zu Barack Obama und Kamala Harris.
Gegenwärtiges kommt kaum vor
Woran sich die Frage anschließen könnte, warum der Kanon des schwarzen Pantheon so begrenzt ist. Es ist stets derselbe überschaubare Personenkreis, dem gehuldigt wird: Marvin Garvey und Martin Luther King, Kwame Nkrumah und Patrice Lumumba, James Baldwin und Angela Davis, Cheikh Anta Diop und Nelson Mandela e tutti quanti. Selbst in der Musik: Die 1993 in Togo geborene Sandra Seghir widmet zwei monumentale psychedelische Gemälde Fela Kuti aus Nigeria und Miriam Makeba aus Südafrika – beide feierten ihre größten Erfolge in den 1960/70er Jahren.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "A World in Common – Contemporary African Photography" – üppig inszenierte Themenschau in der Galerie C/O Berlin
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "When We See Us – Hundert Jahre panafrikanische figurative Malerei" – große Überblicks-Schau im Kunstmuseum Basel
und hier einen Artikel über den Film "Omen (Augure)" – bildgewaltiges Drama über die Stigmatisierung angeblich 'verfluchter' Angehöriger durch ihre Familien in Afrika von Sammy Baloji
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Die Göttliche Komödie" über "Himmel, Hölle, Fegefeuer aus Sicht afrikanischer Gegenwarts-Künstler" – gute Themen-Schau im Museum für Moderne Kunst, Frankfurt/ Main
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Afro-Tech and the Future of Re-Invention" – Überblick über Afrofuturismus im Hartware Medienkunstverein (HMKV), Dortmund.
Elektroschrott-Astronauten wie Außerirdische
Alles kein Thema in Völklingen; ebenso wenig mangelnde soziale Mobilität, brain drain, flagrante Korruption und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, um nur die wichtigsten zu nennen. Obwohl in einigen afrikanischen Hauptstädten wie Dakar, Lagos, Nairobi und Kinshasa vitale Kunst-Szenen entstanden sind, deren Akteure sich einfallsreich solchen Sujets widmen, weil sie ihren Mitmenschen auf den Nägeln brennen.
Allein ein Beitrag in der Ausstellung lässt das erahnen. Das Kollektiv „Kongo Astronauts“ stapft in grotesk überladenen Elektroschrott-Raumanzügen durch Fabrikruinen; ihr Afrofuturismus steht pars pro toto für die überbordende Recyling-Kunstproduktion in Kinshasa. Doch sie wirken wie Außerirdische in diesem rückwärtsgewandtem Kontext.
Katalog kommt spät, aber gewaltig
Afrikas Zukunft kümmert hier kaum; die Schau scheint eher eifrig darum bemüht, den Vergangenheitsbewältigungs-Industrien des westlichen Kulturbetriebs eine postkoloniale hinzuzufügen. Gut afrikanisch ist hingegen, dass der Katalog erst mit sechs Monaten Verspätung nach Ausstellungsbeginn erscheint – aber mit rund dreieinhalb Kilo für mehr als 500 Seiten so gewichtig ausfällt wie etliche repräsentative Afro-Mammutprojekte von zweifelhaftem Nutzen. Wie etwa der völlig überdimensionierte Unabhängigkeitsplatz in Accra oder das „Monument der afrikanischen Renaissance“ in Dakar: A True Burden of Africa.