
Was den Briten ihr König Artus und den Deutschen ihr Siegfried, ist der Schweiz ihr Wilhelm Tell: eine Sagengestalt, deren mögliche historische Wurzeln tief begraben sind unter den Legenden, die sich um sie ranken. Ob dieser Volksheld wirklich existiert hat, ist nach wie vor umstritten. Doch die wichtigsten Stationen seiner Geschichte haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben – nicht nur in der Schweiz.
Info
Wilhelm Tell
Regie: Nick Hamm,
133 Min., Großbritannien/ Italien 2024;
mit: Ben Kingsley, Golshifteh Farahani, Claes Bang, Connor Swindells
Weitere Informationen zum Film
Ein neuzeitlicher Odysseus
Aus diesem Kontext schert der Film von Regisseur Nick Hamm auf den ersten Blick nicht aus; tatsächlich diente ihm Schillers Schauspiel als Vorlage. Keine schlechte Entscheidung, denn in ihrer Funktion als patriotische Heldengeschichte wurde die Legende seither kaum besser dramatisiert: Tell ist bei Schiller ein neuzeitlicher Odysseus, der widerwillig in den Konflikt hineingezogen wird und mit dem Mord an Gessler den Startschuss zum Aufstand gibt.
Offizieller Filmtrailer
Wie das Geschehen wohl ausgesehen hätte
Allerdings hat Hamm bei Dramaturgie und Personal allerlei geändert, gekürzt und verdichtet; anderes wird erheblich ausgeschmückt. Mit etlichen Sprech- und Statistenrollen in historisch getreuen Kostümen und an Original-Schauplätzen zeigt er, wie das Geschehen vermutlich ausgesehen hätte, wenn es sich wirklich so ereignet hätte – und wenn damals in Zentraleuropa alle fließend Englisch gesprochen hätten.
Wer nicht auf hundertprozentige historische Korrektheit pocht, wird mit einem Mittelalter-Spektakel belohnt, das es mit den Blockbuster-Filmen eines Ridley Scott aufnehmen kann. Wobei in dieser britisch-italienischen Produktion weniger Budget, aber dafür umso mehr Sorgfalt steckt.
Gattin als Mitbringsel aus Heiligem Land
In die Gestaltung von Armbrüsten, Rüstungen, folkloristischen Kostümen und Innenräumen ist eine Menge Wissen, Schnitz-, Schmiede- und andere Handarbeit eingeflossen. Alles sieht zum Anfassen echt aus; majestätisch türmen sich darüber die Berge. Selbst die Haut der Darsteller sieht so gegerbt aus, als würden sie schon lange Zeit unter der Alpensonne leben.
Bei der Charakterzeichnung nutzt Hamms Drehbuch alle Anhaltspunkte, aber auch alle Leerstellen, welche die dunkle Quellenlage bietet. So wird aus dem „redlichen Mann“ der frühen Überlieferung ein kerniger Jägersmann, der als Ex-Kreuzritter auch Kampferfahrung im Heiligen Land gesammelt hat. Zudem hat Tell (Claes Bang) dort seine heutige Ehefrau Suna (Golshifteh Farahani) kennen und lieben gelernt; bei seiner Rückkehr brachte er sie und ihren Sohn Walter (Tobias Jowett) mit in die Schweiz, die von den Habsburgern beherrscht (im Film: „besetzt“) wird.
Habsburger sofort als böse erkennbar
Die Tells als Patchwork-Familie – diese kühne Deutung erinnert daran, dass auch im Mittelalter einige Menschen durchaus mobil waren; Migration über weite Distanzen stellt nichts Neues dar. Zugleich wäre eine Heldenfigur im zeitgenössischen Kino kaum glaubwürdig, stünde an seiner Seite keine starke Frau. Die Blicke, welche die Eheleute wechseln, als sie begreifen, dass es keinen Weg zurück gibt, gibt ihrem Handeln eine dramatische Tiefe, die den historischen Abstand überbrückt.
Wie in Schillers Vorlage zeichnen sich die Frauen um Tell durch enorme Willensstärke aus. Auf der anderen Seite gibt der Brite Connor Swindells einen so starken wie abgefeimten Gegenspieler Gessler. Denn die Habsburger werden visuell klar als böse markiert: Kostüm und Make-up bedienen sich dafür optischer Codes, die Mittelalter-Mode mit heutiger Ikonografie mixen.
Fürstentochter mit Superkräften
So erinnert die Herrscher-Familie, vor allem Ben Kingsley als König Albrecht, an entfernte Verwandte der Harkonnens aus dem SciFi-Epos „Dune“ oder an die Entourage des Imperators aus „Star Wars“, mit einer Phalanx aus behelmten, entmenschlichten Soldaten als Sturmtruppen. Als weibliche Wildcard wird zudem die Schweizer Fürstentochter Bertha (Ellie Bamber) mit allerlei Superkräften ausgestattet; sie überrascht ein ums andere Mal mit entschlossener Tatkraft.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Hagen – Im Tal der Nibelungen" – Kino-Version des deutschen Nationalepos' von Cyrill Boss + Philipp Stennert mit Jannis Niewöhner
und hier eine Besprechung des Films Films "The Last Duel" – aufwändiges Mittelalter-Spektakel über Vergewaltigungs-Vorwurf von Ridley Scott mit Matt Damon + Adam Driver
und hier einen Bericht über den Film "Marketa Lazarová" – beeindruckend authentisches Mittelalter-Epos aus dem Jahr 1967 von František Vláčil
und hier ein Beitrag über die Ausstellung "Die Habsburger im Mittelalter – Aufstieg einer Dynastie" über die Anfänge der Herrscherfamilie im Historischen Museum der Pfalz, Speyer.
Hollywood scheiterte zwei Mal
Es wird also nie langweilig zwischen Vierwaldstädter See und dem Habsburger Hauptquartier. Auch ohne erkennbare Computereffekte haucht „Wilhelm Tell“ der alten Legende mit den Mitteln des Action-Kinos Leben ein, ohne dabei den Tiefgang zu opfern. Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil Hollywood sich zwei Mal an diesem Stoff verhoben hat – abgesehen von den 22 übrigen, missglückten oder gelungenen Verfilmungen seit 1900.
1953 scheiterte eine internationale Koproduktion mit Errol Flynn in der Hauptrolle. 2014 blieb uns eine 3D-Version mit Til Schweiger und Brendan Fraser erspart. Für diese Ausfälle entschädigt Nick Hamms „Wilhelm Tell“ allemal – und dürfte in seiner Wirkung wohl auch die Schweizer „Tell – Jagd auf ewig“ von 2023 überflügeln, die bislang nicht in die deutschen Kinos gekommen ist.