Golshifteh Farahani + Ben Kingsley

Wilhelm Tell

Er hat nur einen Schuss frei: Wilhelm Tell (Claes Bang) zielt mit der Armbrust auf den Apfel auf dem Kopf seines Sohnes Walter (Tobias Jowett). Foto: SquareOne Entertainment
(Kinostart: 19.6.) Ein Apfelschuss für eine Alpenrepublik: Die Legende über den Schweizer Nationalhelden ist unverwüstlich. Regisseur Nick Hamm orientiert seine Verfilmung am Stück von Friedrich Schiller, passt den Stoff aber zeitgemäß und sorgfältig an – für ein gelungenes Historien-Action-Epos.

Was den Briten ihr König Artus und den Deutschen ihr Siegfried, ist der Schweiz ihr Wilhelm Tell: eine Sagengestalt, deren mögliche historische Wurzeln tief begraben sind unter den Legenden, die sich um sie ranken. Ob dieser Volksheld wirklich existiert hat, ist nach wie vor umstritten. Doch die wichtigsten Stationen seiner Geschichte haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben – nicht nur in der Schweiz.

 

Info

 

Wilhelm Tell

 

Regie: Nick Hamm,

133 Min., Großbritannien/ Italien 2024;

mit: Ben Kingsley, Golshifteh Farahani, Claes Bang, Connor Swindells

 

Weitere Informationen zum Film

 

Der Apfelschuss, Tells Sturmfahrt über den Vierwaldstätter See, sein „Tyrannenmord“ am habsburgischen Landvogt Gessler und schließlich der Rütlischwur der rebellierenden Schweizer Fürsten, der zur Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft im 14. Jahrhundert führte: All dies ist das dramaturgische Rückgrat aller Nacherzählungen, von volkstümlichen „Tellspielen“ bis zu den Bühnen der Hochkultur. Gioachino Rossinis Oper von 1829 wird bis heute noch ebenso gespielt wie das 1804 uraufgeführte Theaterstück von Friedrich Schiller.

 

Ein neuzeitlicher Odysseus

 

Aus diesem Kontext schert der Film von Regisseur Nick Hamm auf den ersten Blick nicht aus; tatsächlich diente ihm Schillers Schauspiel als Vorlage. Keine schlechte Entscheidung, denn in ihrer Funktion als patriotische Heldengeschichte wurde die Legende seither kaum besser dramatisiert: Tell ist bei Schiller ein neuzeitlicher Odysseus, der widerwillig in den Konflikt hineingezogen wird und mit dem Mord an Gessler den Startschuss zum Aufstand gibt.

Offizieller Filmtrailer


 

Wie das Geschehen wohl ausgesehen hätte

 

Allerdings hat Hamm bei Dramaturgie und Personal allerlei geändert, gekürzt und verdichtet; anderes wird erheblich ausgeschmückt. Mit etlichen Sprech- und Statistenrollen in historisch getreuen Kostümen und an Original-Schauplätzen zeigt er, wie das Geschehen vermutlich ausgesehen hätte, wenn es sich wirklich so ereignet hätte – und wenn damals in Zentraleuropa alle fließend Englisch gesprochen hätten.

 

Wer nicht auf hundertprozentige historische Korrektheit pocht, wird mit einem Mittelalter-Spektakel belohnt, das es mit den Blockbuster-Filmen eines Ridley Scott aufnehmen kann. Wobei in dieser britisch-italienischen Produktion weniger Budget, aber dafür umso mehr Sorgfalt steckt.

 

Gattin als Mitbringsel aus Heiligem Land

 

In die Gestaltung von Armbrüsten, Rüstungen, folkloristischen Kostümen und Innenräumen ist eine Menge Wissen, Schnitz-, Schmiede- und andere Handarbeit eingeflossen. Alles sieht zum Anfassen echt aus; majestätisch türmen sich darüber die Berge. Selbst die Haut der Darsteller sieht so gegerbt aus, als würden sie schon lange Zeit unter der Alpensonne leben.

 

Bei der Charakterzeichnung nutzt Hamms Drehbuch alle Anhaltspunkte, aber auch alle Leerstellen, welche die dunkle Quellenlage bietet. So wird aus dem „redlichen Mann“ der frühen Überlieferung ein kerniger Jägersmann, der als Ex-Kreuzritter auch Kampferfahrung im Heiligen Land gesammelt hat. Zudem hat Tell (Claes Bang) dort seine heutige Ehefrau Suna (Golshifteh Farahani) kennen und lieben gelernt; bei seiner Rückkehr brachte er sie und ihren Sohn Walter (Tobias Jowett) mit in die Schweiz, die von den Habsburgern beherrscht (im Film: „besetzt“) wird.

 

Habsburger sofort als böse erkennbar

 

Die Tells als Patchwork-Familie – diese kühne Deutung erinnert daran, dass auch im Mittelalter einige Menschen durchaus mobil waren; Migration über weite Distanzen stellt nichts Neues dar. Zugleich wäre eine Heldenfigur im zeitgenössischen Kino kaum glaubwürdig, stünde an seiner Seite keine starke Frau. Die Blicke, welche die Eheleute wechseln, als sie begreifen, dass es keinen Weg zurück gibt, gibt ihrem Handeln eine dramatische Tiefe, die den historischen Abstand überbrückt.

 

Wie in Schillers Vorlage zeichnen sich die Frauen um Tell durch enorme Willensstärke aus. Auf der anderen Seite gibt der Brite Connor Swindells einen so starken wie abgefeimten Gegenspieler Gessler. Denn die Habsburger werden visuell klar als böse markiert: Kostüm und Make-up bedienen sich dafür optischer Codes, die Mittelalter-Mode mit heutiger Ikonografie mixen.

 

Fürstentochter mit Superkräften

 

So erinnert die Herrscher-Familie, vor allem Ben Kingsley als König Albrecht, an entfernte Verwandte der Harkonnens aus dem SciFi-Epos „Dune“ oder an die Entourage des Imperators aus „Star Wars“, mit einer Phalanx aus behelmten, entmenschlichten Soldaten als Sturmtruppen. Als weibliche Wildcard wird zudem die Schweizer Fürstentochter Bertha (Ellie Bamber) mit allerlei Superkräften ausgestattet; sie überrascht ein ums andere Mal mit entschlossener Tatkraft.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Hagen – Im Tal der Nibelungen" – Kino-Version des deutschen Nationalepos' von Cyrill Boss + Philipp Stennert mit Jannis Niewöhner

 

und hier eine Besprechung des Films Films "The Last Duel" – aufwändiges Mittelalter-Spektakel über Vergewaltigungs-Vorwurf von Ridley Scott mit Matt Damon + Adam Driver

 

und hier einen Bericht über den Film "Marketa Lazarová" – beeindruckend authentisches Mittelalter-Epos aus dem Jahr 1967 von František Vláčil

 

und hier ein Beitrag über die Ausstellung "Die Habsburger im Mittelalter – Aufstieg einer Dynastie" über die Anfänge der Herrscherfamilie im Historischen Museum der Pfalz, Speyer.

 

Damit löst sich das Drehbuch bei Bedarf von Schillers Text und nimmt sich vor allem bei der Frage, wer am Ende wen tötet, erhebliche Freiheiten. Damit wird ein zentrales Thema des Stücks, die Rechtmäßigkeit des Tyrannenmords, auf zeitgemäße Weise neu verhandelt. Andere Anspielungen sind subtiler. So erwähnt Tell fast beiläufig, dass er auf der Jagd nach Gessler am besten allein zurecht kommt – ein Echo der berühmten Zeile „Der Starke ist am mächtigsten allein“ von Schiller. Bertha kommt natürlich trotzdem mit.

 

Hollywood scheiterte zwei Mal

 

Es wird also nie langweilig zwischen Vierwaldstädter See und dem Habsburger Hauptquartier. Auch ohne erkennbare Computereffekte haucht „Wilhelm Tell“ der alten Legende mit den Mitteln des Action-Kinos Leben ein, ohne dabei den Tiefgang zu opfern. Das ist auch deswegen bemerkenswert, weil Hollywood sich zwei Mal an diesem Stoff verhoben hat – abgesehen von den 22 übrigen, missglückten oder gelungenen Verfilmungen seit 1900.

 

1953 scheiterte eine internationale Koproduktion mit Errol Flynn in der Hauptrolle. 2014 blieb uns eine 3D-Version mit Til Schweiger und Brendan Fraser erspart. Für diese Ausfälle entschädigt Nick Hamms „Wilhelm Tell“ allemal – und dürfte in seiner Wirkung wohl auch die Schweizer „Tell – Jagd auf ewig“ von 2023 überflügeln, die bislang nicht in die deutschen Kinos gekommen ist.