Nehir Tuna

Yurt

Ahmet (Doğa Karakaş, li.) schließt im muslimischen Wohnheim mit Hakan (Can Bartu Arslan) eine enge Freundschaft. Foto: déjà-vu film
(Kinostart: 19.6.) Coming of Age im Kulturkampf: Ein türkischer Junge pendelt täglich zwischen Eliteschule und Islamisten-Kaderschmiede. Aus dieser weltanschaulichen Zerreißprobe macht Regisseur Nehir Tuna wenig; lieber beobachtet er seine Hauptfigur beim elegischen Seelenpein der Pubertät.

Der zwölfjährige Ahmet (Doğa Karakaş) führt ein Doppelleben: Vormittags geht der Sohn wohlhabender Eltern auf eine säkulare Privatschule, die kemalistische Prinzipien und guten Englisch-Unterricht lehrt. Am Nachmittag wechselt er in ein muslimisches Wohnheim; dort werden Gottesfurcht und fromme Lebensführung gepredigt. Bar jedes weltlichen Luxus‘: Die Schlafsäle für Jungen sind genauso spartanisch wie die Verpflegung.

 

Info

 

Yurt

 

Regie: Nehir Tuna,

116 Min., Türkei/ Deutschland/ Frankreich 2023;

mit: Can Bartu Aslan, Doğa Karakaş, Ozan Çelik

 

Weitere Informationen zum Film

 

Warum dieser Spagat? Ahmets Vater (Tansu Biçer), ein erfolgreicher Unternehmer, hat sich kürzlich einer strenggläubigen Gemeinde angeschlossen, offenbar einer Art Sufi-Orden. Nun soll sein Sohn auf dem Pfad der Tugend nachfolgen. Was ihm schwer fällt: Die freudlose Atmosphäre einer ärmlichen Jugendherberge behagt ihm ebenso wenig wie der geistlose Drill durch beschränkte Hodschas (Lehrer). Am allermeisten stört ihn, dass er sein neues Zuhause vor den Kameraden in der Privatschule verbergen muss.

 

Freund als Überlebenshilfe

 

Kurzum: Ahmet fühlt sich verloren und verlassen – bis sich Hakan (Can Bartu Arslan) seiner annimmt. Der etwas ältere Junge stammt vom unteren Ende der sozialen Leiter, ist vermutlich sogar Waise: Wenn die übrigen Zöglinge Urlaub bekommen, muss er im Internat bleiben, weil er nirgendwo erwartet wird. Gewieft bringt Hakan dem Neuankömmling bei, wie man tricksen kann, um sich im strengen Regiment durchzumogeln. Bald werden sie ziemlich beste Freunde.

Offizieller Filmtrailer OmU


 

Zerrissenheit der ganzen Nation

 

Anfangs ist Ahmet guten Willens, sich unterzuordnen und als gehorsamer Muslim zu bewähren. Er setzt alles daran, in einen exklusiven Kreis besonders Gottesfürchtiger aufgenommen zu werden – ohne Erfolg. Denn seine Sinne sind verwirrt durch die schöne Sevinç in seiner Klasse, mit der er kleine Geschenke austauscht. Zudem entdeckt er bald, dass die Hodschas doppelzüngig agieren: Ihren salbungsvollen Losungen von Allahs Güte spricht die Grausamkeit Hohn, mit der sie Ohrfeigen austeilen und prügeln.

 

Der seit Gründung der Republik währende Kulturkampf zwischen Säkularen und Religiösen, den Staatschef Erdoğan mit seiner AKP zugunsten letzterer entschieden hat, ausgetragen in der Person eines Teenagers – das könnte aufschlussreiche Einblicke in die innere Zerrissenheit der ganzen Nation bieten. Und Regisseur Nehir Tuna spielt darauf an, wenn er das Wohnheim von Soldaten durchsuchen lässt, dessen Leiter zuvor verbotenes Material beseitigt haben, oder eine Schar Ultra-Kemalisten vor dem Gebäude protestieren, während im Fernsehen islamische Eiferer sich ekstatisch winden.

 

Typische Autofiktions-Mängel

 

Doch solche Momente bleiben zusammenhang- und folgenlos. Dem Regisseur geht es vor allem um die éducation sentimentale seines jungen Helden, den die Kamera beharrlich beobachtet. In langen elegischen Passagen, in denen Ahmet träumend und grübelnd sinniert, wie das ein Pubertierender so macht – unterbrochen von unmotivierten Aktionismus-Ausbrüchen, in denen er gegen die Aufseher oder seinen Vater rebelliert. Selbstredend vergeblich.

 

Der Film spielt im Jahr 1997; damals war Regisseur Tuna so alt wie seine Hauptfigur. Offenbar hat das Geschehen autobiographische Züge, und offensichtlich leidet es unter den Mängeln vieler autofiktionaler Werke: Ihre Schöpfer blicken nostalgisch und selbstverliebt auf ihr früheres Leben zurück – dessen Details für Außenstehende kaum interessant oder relevant sind. Da hilft auch das erlesene Schwarzweiß nicht viel, in dem drei Viertel des Films aufgenommen wurden.

 

21-Jähriger spielt Zwölfjährigen

 

Hintergrund

 

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und hier einen Bericht über die Ausstellung "Ara Güler – Das Auge Istanbuls: Retrospektive von 1950 bis 2005" – erste deutsche Werkschau des berühmtesten türkischen Fotografen in Berlin + Monschau.

 

In der letzten halben Stunde wird er plötzlich farbig: Ahmet und Hakan hauen aus dem Heim ab und reißen sich Autos unter den Nagel, weil sie einen ominösen Schatz finden wollen. Natürlich wird nichts daraus, und die Spritztour endet, wie solche Fluchtversuche im Kino stets scheitern: mit Bruch, Kater und Reue. Dabei gelingt es Nehir Tuna kaum, geläufige Coming-of-Age-Versatzstücke zu einer sinnvollen Dramaturgie zu verbinden, die mehr vermitteln würde als hüzün – diese türkische Spielart bittersüßer Melancholie, einer Mischung aus Trauer und dem Gefühl von Vergeblichkeit.

 

Was auch an den Darstellern liegt: Nachwuchs-Schauspieler Doğa Karakaş in der Hauptrolle war bei den Dreharbeiten 21 Jahre alt. Um einen Zwölfjährigen zu mimen, lässt er in seiner naiven Weltfremdheit manchmal unvermittelt die verspielte Neugier des jungen Malcolm McDowell („Uhrwerk Orange“, „Caligula“) aufblitzen – beides wenig glaubwürdig.

 

Beeindruckender underdog

 

Tansu Biçer als sein schmächtiger Vater wirkt mit grauem Dreitagebart und Sorgenfalten nie wie ein Firmenpatriarch, der Unterordnung erzwingt. Und die Hodschas im Wohnheim sind blasse Pappkameraden. Nur Can Bartu Arslan als Hakan beeindruckt: Seine blauen Augen sprühen vor Energie, seine markanten Wangenknochen zucken – so sieht ein underdog aus, der nichts zu verlieren hat außer seinem Bett im „Yurt“, dem Schlafsaal.