
Eine Landschaft in Brandenburg: Felder dehnen sich bis zum Horizont, dazwischen stehen in der schwülen Sommerhitze ein paar Windräder. Zu ihren Füßen sucht eine junge Frau (Saskia Rosendahl) ihre kleine Tochter Greta; sie findet das leicht verwilderte Kind im Wald, in einem Tierkadaver herumstochernd. Währenddessen entfernt in einem schicken Wochenend-Bungalow die etwas ältere Isabell (Nina Hoss) tote Fliegen mit dem Staubsauger von der Fensterbank des geschmackvoll mit Bauhausmöbeln eingerichteten Hauses.
Info
Zikaden
Regie: Ina Weisse,
100 Min., Frankreich/ Deutschland 2025;
mit: Nina Hoss, Saskia Rosendahl, Vincent Macaigne
Weitere Informationen zum Film
Distinguirte Großstädterin
Sie verkörpert auch in „Zikaden“ wieder eine weltgewandte, distinguierte Großstädterin. Isabell ist eine erfolgreiche Immobilienmaklerin und hat scheinbar alles im Griff. Ein Familienbesuch im Ferienhaus in Brandenburg wird generalstabsmäßig geplant und durchgeführt; das bedarf mehrerer vollgepackter Autos und Personal. Vielleicht ist es für die Familie das letzte Mal, dass sie dorthin fährt. Das gilt vor allem für den Vater, der nach einem Schlaganfall im Rollstuhl sitzt.
Offizieller Filmtrailer
Zwei Frauen, zwei Welten
Der Entwurf für den Brandenburger Bungalow stammt von ihm selbst; der einst erfolgreiche Architekt soll sein eigenes Werk noch einmal ein Wochenende lang genießen. Ihre Mutter kann die Pflege nicht mehr allein stemmen; so müssen Profis her, die in Polen gefunden werden. Diesen Aufruhr beobachtet Gretas Mutter Anja nur aus der Entfernung. Sie ist einmal mehr damit beschäftigt, sich einen neuen Job zu suchen.
Diese beiden Frauen lässt Weisse in einem raren, durchlässigen Moment aufeinandertreffen. Ohne zunächst einander sympathisch zu sein, spüren sie instinktiv sofort eine gewisse Verbundenheit. Tatsächlich: Jenseits von Status und Herkunft sind beide bemüht um Kontrolle in ihrem Leben. Gleichzeitig wirken beide verloren und auf der Suche nach etwas Unbestimmten, vielleicht einfach nach sich selbst.
Brüche + Leerstellen
Beide haben ihre eigenen Prioritäten der Verantwortung untergeordnet, die sie für Andere übernommen haben. Isabell wird das erst bewusst, als ihr Mann (Vincent Macaigne) sie am Flughafen einfach stehenlässt und allein in den in Urlaub fliegt. Anja hat nie wirklich darüber nachdenken können, sondern immer nur getan, was zum Überleben nötig gewesen ist; das erzählt sie Isabell eines Abends beim Wein. Dieser Moment könnte zu einer Freundschaft führen, wird aber jäh unterbrochen. Einen weiteren wird es nicht geben.
Weisse arbeitet oft mit solchen Brüchen; sie lässt Leerstellen und schneidet unvermittelt neue Situationen an. Beispielsweise wenn Isabell alltägliche Katastrophen ausbügeln muss, während sie zwischen dem Landhaus und der Stadtwohnung der Eltern pendelt: Mal ist ein Pfleger krank, dann ist die Mutter gestürzt. Die Provinz bietet dörfliche Langsamkeit, aber keine Idylle; doch Anja hat sich bewusst für die etwas trostlose Einfachheit und gegen städtischen Trubel und Konsumzwang entschieden.
Tochter eines übermächtigen Vaters
Als sich aber die Gelegenheit ergibt, es sich im schön eingerichteten Ferienhaus von Isabells Familie bequem zu machen, nehmen sie und ihre Tochter das forsch und raumgreifend wahr. Anja macht sich zunächst beim Aufräumen nützlich, denn Isabell sieht Verkaufspotential in der familieneigenen Luxusimmobilie. Solange der dominante Vater noch lebt, kommt das allerdings nicht infrage.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Das Vorspiel" – intensives Drama über eine Geigenlehrerin und ihren Schüler von Ina Weisse mit Nina Hoss
und hier eine Besprechung des Films "Pelikanblut – Aus Liebe zu meiner Tochter" – überraschendes Drama über gewalttätiges Adoptivkind von Katrin Gebbe mit Nina Hoss
und hier einen Beitrag über den Film "Der Geburtstag" – stilvolle Schwarzweiß-Tragikomödie über elterliche Überforderung von Carlos A. Morelli.
Erdung durch Klassengefälle
In Isabells Geschichte steckt also ein Hauch von Selbsttherapie. Gut, dass dem die robuste und kämpferische Anja vom Dorf entgegengesetzt wird. Sie erweitert das spröde Drama um eine weitere Dimension und sorgt für eine gewisse Erdung. Das Klassengefälle zwischen den Frauen bleibt allein optisch immer bestehen. Für beide hat die Erzählung Mitgefühl.
So nimmt sie Isabells Verbitterung und den angedeuteten Schmerz über ihre Kinderlosigkeit genau so ernst wie Anjas Entschlossenheit, mit beschränkten Mitteln eine gute Mutter zu sein. Eine Lösung ihrer Probleme wird nicht serviert, aber wenigstens eine hoffnungsvolle Möglichkeit.