
Das Glück ist eine Frage der Mathematik: BNG = Hh + (Hn x As). Eifrig schreibt die Schulungsleiterin jene Formel an die Tafel, nach der sich angeblich die Zufriedenheit einer Bevölkerung berechnen lässt – zumindest in ihrer Heimat Bhutan. In dem kleinen, im Himalaya zwischen Indien und China gelegenen Staat wird Fortschritt längst nicht mehr nur anhand des Bruttoinlandsprodukts gemessen.
Info
Agent of Happiness -
Unterwegs im Auftrag des Glücks
Regie: Arun Bhattarai + Dorottya Zurbó,
94 Min., Bhutan/ Ungarn 2024;
mit: Noémi Veronika Szakonyi, Máté Artur Vincze, Arun Bhattarai
Weitere Informationen zum Film
Wie sich Glück berechnen lässt
Das Konzept zur Erfassung des sogenannten „Bruttonationalglücks“ (BNG) basiert auf Umfragen. Einheimische aus allen Schichten sollen Angaben zu ihren Lebensumständen und Befindlichkeiten machen: von der Anzahl ihrer Kühe, Schafe und Esel bis hin zu ihren Ängsten und Sorgen. Informationen zum Familienstand sind dabei ebenso relevant wie Aussagen über ihre Verbundenheit mit der Natur.
Offizieller Filmtrailer
Ein wichtiger Dienst am Volk
Zu den aufmerksamen Besuchern der Schulung gehört auch Amber. Mit gerunzelter Stirn schaut er auf die Tafel und versucht die Herleitung der komplexen Berechnung des BNG zu verstehen. Er will lernen, was hinter der Formel steckt, um der guten Sache zu dienen. Die Aufgabe, der er sich verschrieben hat, sei ein wichtiger Dienst für das Volk, heißt es; bei den Umfragen seien Sorgfalt und Hingabe gefragt.
Mit einem Stapel Papierbögen im Gepäck machen sich Amber und sein Kollege Guba anschließend auf den Weg durch die Region. Seiner alten Mutter daheim hat der alleinstehende Sohn zuvor liebevoll das Mittagessen vorgekocht. Erst später wird sich herausstellen, dass Amber selbst seine derzeitige Lebenssituation, da ohne Frau und Kinder, nur als mittelmäßig einschätzt.
Auf den Fersen der Agenten
Zunächst wirft der Dokumentarfilm von Arun Bhattarai und Dorottya Zurbó jedoch einen Blick auf die Menschen, denen das Team auf seiner Reise durch die Berge begegnet. Mit ihrer Kamera heften sie sich an die Fersen der beiden „Agenten“, die wie Volkszähler von Haus zu Haus gehen. Geduldig beobachtet die Kamera, wie die Protagonisten gemeinsam mit den Befragten die Daten für die Regierung erfassen.
Insgesamt gibt es fast 150 Details zu klären: Vertrauen die Leute ihren Nachbarn? Gefällt ihnen die Umgebung, in der sie wohnen? Wie schwermütig sind sie, auf einer Skala von eins bis zehn? Anschließend werden einige der gesammelten Statistiken der jeweiligen Teilnehmer für das Publikum sichtbar zusammengefasst. Die Kriterien variieren; entscheidend ist der finale Glücksfaktor.
Sanfter Humor weicht dunklerem Ton
Die Idee des Films ist amüsant, die Inszenierung unaufdringlich und einfühlsam. Ein sanfter Humor liegt über den Interviews. Die atemberaubenden Landschaftaufnahmen zwischen den einzelnen Gesprächen geben derweil ein Gefühl für die Schönheit des Landes und die kulturellen Besonderheiten der Region.
Doch im Laufe der Dokumentation weicht die anfängliche Leichtigkeit fast unmerklich einem dunkleren Ton. Es beginnt, als Ambers eigene unsichere Situation im Land angesprochen wird: Er ist ursprünglich nepalesischer Herkunft. Nach dem Tod seines Vaters wurde ihm als Kind die Staatsbürgerschaft entzogen – nun kämpft er mit den Behörden von Bhutan, um sie zurückzugewinnen.
Statistisch eher unglücklich
Auch Ambers Bemühungen, eine passende Frau zu finden, gestalten sich als schwierig. Weil ihm die Zeit davonrennt, spricht er dabei stets unverblümt über seine Heiratsabsichten. Als er eine vorsichtige Beziehung mit einer jungen Frau eingeht, droht diese ebenfalls an der Tatsache zu zerbrechen, dass er keinen bhutanischen Pass hat: Sie will nach Australien und die Welt entdecken, mit oder ohne ihn.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Was will der Lama mit dem Gewehr?" – atmosphärisch stimmige Dramödie aus Bhutan über die ersten freien Wahlen von Pawo Choyning Dorji
und hier eine Besprechung des Films "Sing me a Song" – kontrastreiche Doku-Fiktion, wie Internet den Alltag in Bhutan verändert, von Thomas Balmès
und hier einen Beitrag über den Film "Shambhala" – episches Porträt einer Frau in Nepal auf spiritueller Reise und Suche nach ihrem Gatten von Min Bahadur Bham
und hier einen Bericht über den Film "Chaddr – Unter uns der Fluss" – facettenreiches Porträt einer isoliert lebenden Familie in der indischen Himalaya-Region Ladakh von Minsu Park.
Film verleitet zur Selbstbefragung
So macht der Film deutlich: Es ist unmöglich, das Glück in Zahlen zu fassen. „Ich bin so glücklich wie die Körner in meinem Reisvorrat“, sagt ein Bauer. Ein anderer prahlt damit, drei Frauen zu haben und bewertet sein Leben mit einer perfekten Zehn. Doch ein kurzer Blick auf seine Gemahlinnen verrät, dass wohl nicht alle im Haus seine Meinung teilen, während er wie selbstverständlich für die gesamte Familie spricht.
Unweigerlich fragt mich sich während des Films immer wieder, wie man sich selbst bei der Befragung einordnen würde. Schon das gemächliche Tempo, mit dem die beiden Agenten bei ihrer Arbeit gefilmt werden, verleitet dazu, die gezeigten Lebenswelten hinter der Statistik mit der eigenen zu vergleichen.
Stimmungsbild einer Nation
Bhattarai und Zurbó, das merkt man schnell, geht es eher um diesen persönlichen Gedankenaustausch als um eine kritische Analyse des BNG. In ihrer Gesamtheit ergeben die Einzelschicksale, die in den jeweiligen Episoden beleuchtet werden, im besten Fall das Stimmungsbild einer Nation, in der die Menschen dem Leben nicht unbedingt zufrieden, aber zuversichtlich entgegensehen.