Chemnitz

European Realities: Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa

Gerda Wegener (1886−1940): I sommervarmen (Lili), (In der Hitze des Sommers (Lili), Detail), 1924, Öl auf Leinwand, 115 × 87 cm; Privatsammlung Dänemark. Foto: ohe
Reise auf einen unbekannten eigenen Kunst-Kontinent: In der Zwischenkriegszeit praktizierten Maler in ganz Europa Varianten dessen, was hierzulande Neue Sachlichkeit heißt. Diese Epoche führt das Museum Gunzenhauser erstmals in überwältigender Fülle und Vielfalt vor – allerdings etwas karg kommentiert.

Die Europäische Union existierte bereits vor 100 Jahren; jedenfalls in der Malerei. Nach dem Ersten Weltkrieg wandten sich kontinentweit viele Künstler von den Avantgarden der Vorkriegszeit mit ihren verstiegenen Konzepten ab. Stattdessen bemühten sie sich mit einer klaren, reduzierten Formensprache wieder um eine im weitesten Sinne realistische Darstellung der Wirklichkeit.

 

Info

 

European Realities: Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa

 

27.04.2025 - 10.08.2025

 

täglich außer montags 11 bis 18 Uhr,

mittwoch 14 bis 21 Uhr

im Museum Gunzenhauser, Falkeplatz, Chemnitz

 

Katalog 48 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Diese Strömung hat viele Namen. In Deutschland heißt sie „Neue Sachlichkeit“, gleichlautend auf Niederländisch und Tschechisch. In Frankreich spricht man von „Retour à l’ordre“ („Rückkehr zur Ordnung“) nach dem 1926 veröffentlichten Essayband „Le Rappel à l’ordre“ („Ruf zur Ordnung“) von Jean Cocteau, in Italien von „Realismo magico“ („Magischer Realismus“). Anderswo sind weitere Bezeichnungen üblich.

 

Vielzahl von Binnen-Unterteilungen

 

Damit nicht genug: Bereits Gustav Hartlaub, als Direktor der Kunsthalle Mannheim 1925 Erfinder des Begriffs „Neue Sachlichkeit“, unterschied einen „veristischen“, linken und sozialkritischen Flügel von einem neoklassizistisch-konservativen Flügel. Ähnliche Unterscheidungen lassen sich auch in anderen Ländern treffen. Zudem wechselten viele Maler im Lauf der Zeit ihre künstlerische Handschrift und gingen von der einen zur anderen Spielart über.

Impressionen der Ausstellung


 

Vorgänger Jubiläumsschau in Mannheim

 

Dieser Gemengelage trägt die Ausstellung mit ihrem etwas umständlichen Untertitel Rechnung: Nicht eine einzige, sondern zahlreiche „Realismusbewegungen“ prägten das Kunstgeschehen im Europa der Zwischenkriegsjahre. Sie in ihrer ganzen Vielfalt vorzustellen, ist die ungeheure Leistung dieser Schau – so umfassend, wie es hierzulande bislang wohl noch nie geschehen ist.

 

Gewiss: Schon Ende 2024/ Anfang 2025 hat die Jubiläumsausstellung zu 100 Jahren Neuer Sachlichkeit an ihrem Geburtsort in der Kunsthalle Mannheim nicht nur mustergültig das kunstgeschichtliche Phänomen selbst, sondern auch seine internationale Strahlkraft dargestellt. In der Kunsthalle waren ausgewählte Werke aus den Niederlanden, der Schweiz, Österreich, Italien, Großbritannien und den USA vertreten – aber eher in homöopathischen Dosen. Dennoch überrascht nicht, dass viele der in Chemnitz gezeigten Bilder bereits in Mannheim zu sehen waren.

 

Höhepunkt des Kulturhauptstadt-Programms

 

Das Museum Gunzenhauser dreht aber den Schwerpunkt um: Deutsche neusachliche Maler bilden nur eine von vielen nationalen Gruppen. Ohne enzyklopädische Vollständigkeit: Unter den rund 300 Exponaten sind solche aus dem Baltikum, Schweden und Finnland, Großbritannien und Frankreich, den Niederlanden, Italien und Spanien, Slowenien und Kroatien oder Bulgarien – aber keine aus Norwegen, Irland, Belgien, Serbien, Rumänien oder Griechenland. Was vermutlich eine Frage des Aufwands war; ohnehin soll die Vorbereitung dieser Ausstellung fünf Jahre gedauert haben.

 

Sie ist zugleich der Beitrag der städtischen Kunstsammlungen zum Programm von Chemnitz als europäischer Kulturhauptstadt 2025 – und zweifellos der spektakulärste. Aber auch der nachhaltigste: Noch nie wurde in einem deutschen Museum die Kunst zwischen 1920 und 1940 vor allem aus Ostmitteleuropa so intensiv und differenziert beleuchtet. Da lassen sich scharenweise Entdeckungen machen; etliche der in ihren Heimatländern angesehenen Maler sind hierzulande quasi unbekannt.

 

Auch Zweitklassiges erweitert Horizont

 

Was nicht bedeutet, das sämtliche präsentierten Arbeiten ausnahmslos Meisterwerke wären. Im Gegenteil: Gerade weil sie gegen Leihgaben aus ganz Europa bestehen müssen, wirken manche Gemälde ziemlich zweit- bis drittrangig. Doch sie illustrieren in jedem Fall eine Tendenz oder Sichtweise, die dem Epochen-Bild der Zwischenkriegszeit eine bestimmte Facette hinzufügt – und damit den kunsthistorischen Horizont des Betrachters erweitert.

 

Ähnlich wie in Mannheim sind die Exponate nicht chronologisch, sondern thematisch angeordnet. Abteilungen wie „Die neue Gesellschaft“, „Sport und Körperkultur“, „Großstadt und Nachtleben“ oder „Armut und Verfall“ decken die wichtigsten Aspekte der (Selbst-)Darstellung der Epoche ab. Mit einem Übergewicht auf Bildnissen: Neben Selbstporträts als klassischem Mittel künstlerischer Selbstvergewisserung und repräsentativen Porträts als Einkommensquelle finden sich auch etliche, die von veränderten Geschlechterrollen künden.

 

Schöner Schein von Selbstbestimmung

 

Etwa die sattsam bekannten, kessen Bubikopf-Damen in freizügig-lässiger Kleidung, die emblematisch für Frauen-Emanzipation in den 1920er Jahren stehen. Hier etwa „Die Malerin Roxane Zurunić“, deren Konterfei der Österreicher Franz Lerch 1930 festhielt; die lächelnd rauchende „Dame im Pyjama“ (1933) des Letten Kārlis Miesnieks oder das Konterfei der Konzertpianistin Hildegard Schröder (um 1930), ebenfalls schmunzelnd mit Zigarette, von Leonore Maria Stenbock-Fermor.

 

Doch die Schau tappt nicht in die Klischee-Falle. Sie betont, wie der schöne Schein von Selbstbestimmung verdeckt, dass die meisten Frauen weiter traditionellen Vorgaben unterworfen waren oder ihre Ausbruchsversuche scheiterten. Dramatisch etwa beim dänischen Maler Einar Wegener, der ab 1913 als Lili Elbe auftrat und 1930/31 als eine der ersten Transgender-Personen wagte, sein biologisches Geschlecht operativ ändern zu lassen – an den Folgen des letzten Eingriffs starb sie. Von dieser Tragik lassen die dekorativen Art-Deco-Akte, die seine Frau Gerda Wegener von ihr malte, nichts ahnen.

 

Goldmedaillen für Sport-Illustrator

 

Doppelbödiger sind die altmeisterlich feinmalerisch ausgeführten Gemälde des Niederländers Pyke Koch. Auf dem Bild „Achterbuurtrhapsodie“ („Slum-Rhapsodie“, 1929) werden Frauentorsi, die Schaufensterpuppen oder Verbrechensopfer sein könnten, auf einem Karren durch düstere Gassen transportiert. „Bertha van Antwerpen“ (1931) ist eine Prostituierte in reifen Jahren mit lebensklugem Schalk in den Augen. Sein Selbstporträt von 1936 zeigt Koch mit rasiertem Schädel in der Pose von Jeanne d’Arc im 1928 gedrehten Stummfilm von Carl Theodor Dreyer – samt Metall-Rahmen aus Flammen-Zacken. Da hatte sich dieser Grenzgänger bereits mit belgischen Faschisten eingelassen.

 

Unverfänglicher war der Sport-Kult, der in diesen Jahren entstand: als Ausgleich für anstrengende Maloche bei Arbeitern oder als Zeitvertreib für Betuchte. Stilprägend wurde der Luxemburger Jean Jacoby, der zahllose Illustrationen für Zeitungen aus dem Ullstein-Verlag lieferte. Seine dynamischen, auf harte Schwarzweiß-Kontraste setzenden Zeichnungen mit sprechenden Titeln wie „Stabwechsel beim Staffellauf“ (1928) oder „Ballangrud nimmt elegant die Kurve“ (1929) prägten nicht nur das Bild, das die Sportberichterstattung jener Jahre abgab. Er gewann damit auch als einziger Künstler zwei Goldmedaillen bei Olympischen Spielen – bei denen wurden von 1912 bis 1948 auch Kunstwettbewerbe ausgerichtet.

 

Summarische Glätte in gedeckten Farben

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Die Neue Sachlichkeit – Ein Jahrhundertjubiläum" – brillanter Epochen-Überblick am Ort der Entstehung in der Kunsthalle, Mannheim

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Lotte Laserstein – Von Angesicht zu Angesicht" – große Retrospektive der Malerin der "Neuen Frau" in der Weimarer Republik in Berlin + Kiel

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Otto Dix: Der böse Blick"spektakuläre Gedenkschau in den Kunstsammlungen K20, Düsseldorf

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Unheimlich real: Italienische Malerei der 1920er Jahre" – erste deutsche Präsentation des "Magischen Realismus", des italienischen Pendants zur Neuen Sachlichkeit, im Museum Folkwang, Essen

 

und hier eine Kritik des Films "The Danish Girl" von Tom Hooper über die erste Trans-Person, die sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog, oft porträtiert von der dänischen Künstlerin Gerda Wegener.

 

Epochentypisch war auch das Nachtleben: Wimmelbilder von Tanzvergnügen zählen zu den besten Beiträgen der Schau. Mitreißend etwa das großformatige Bild „Tanzen (Das Kabarett Excelsior)“ (1929) des Spaniers Josep Mompou Dencausse: Vorne sitzen tief dekolletierte Damen scheinbar ungerührt, während ihre Galane zudringlich werden. Links oben macht eine Jazz-Kapelle schwarzer Musiker Tempo, rechts wirbeln eng umschlungene Paare herum. Dagegen gibt der „Wohltätigkeitsbasar“ (1927) der Tschechin Milada Marešova die Bühne für ein vielfiguriges Schaulaufen ab: beim Sehen und Gesehenwerden der Hautevolee beobachten alle alle.

 

Gibt es in diesem paneuropäischen Panoptikum, dem Vexierbild einer Epoche in 300 Puzzleteilen, so etwas wie einen gemeinsamen Nenner? Wenn ja, dann weniger bei den Sujets als vielmehr ihrer Darstellung. Bei aller Raffinesse ist die Malweise selten naturalistisch exakt, sondern summarisch glättend; die Welt erscheint oft aus geometrischen Grundformen zusammengesetzt, wie sie der Kubismus herauspräpariert hatte. Die Töne sind meist gedeckt, stumpf oder gebrochen – von der Aufbruchsstimmung reiner Farben, die im Expressionismus dominierte, keine Spur mehr.

 

Spiegel bunt schillernder Tristesse

 

Noch deutlicher wird der Gegensatz bei den Protagonisten: Sie wirken im besten Fall gefasst, eher desillusioniert oder resigniert. In enge Räume platziert oder isoliert ins Weite gestellt, erscheinen ihre Spielräume gering; sie müssen sich mit dem Gegebenen abfinden. Trotz der vielen neuen Artefakte, die ihre Lebenswelt erobern: von Hochhaus-Architektur und neuen Medien wie Telefon und Radio bis zu Automobilen und Flugzeugen. All das fasziniert und überfordert sie zugleich.

 

Diese latente Skepsis; dieses Gefühl, der eigenen Gegenwart nicht gewachsen zu sein, verbindet das Personal der Neuen Sachlichkeit mit der Jetztzeit – das bringt diese Ausstellung unüberbietbar deutlich zur Anschauung. Wobei sie es dabei belässt; die Einführungstexte zu den Abteilungen sind arg kurz gehalten. Die Aufsätze im Katalog beschreiben nur die Kunst-Szenen einzelner Länder als ermüdendes namedropping. Doch das mindert nicht die enorme Leistung von Kuratorin Anja Richter und ihrem Team: die bunt schillernde Tristesse des Heute in der Kunst-Ära vor einem Jahrhundert zu spiegeln.