Hamburg

Rendezvous der Träume – Surrealismus und deutsche Romantik

Dorothea Tanning (1910–2012): Geburtstag (Detail), 1942, Öl auf Leinwand, 102,2 x 64,8 cm, Philadelphia Museum of Art. © VG Bild-Kunst 2025. Fotoquelle: Hamburger Kunsthalle
Wiederverzauberung der Welt als Mission: Der Surrealismus war in vielerlei Hinsicht von der Romantik inspiriert. Das zeigt eine große Gedenkausstellung zum 100. Jahrestag der Gründung in der Kunsthalle mit etlichen erstklassigen Leihgaben – womit sie verblüffende Wahlverwandtschaften sichtbar macht.

Von allen deutschen Gedenkausstellungen zum 100. Jubiläum des ersten surrealistischen Manifests ist diese wohl die ambitionierteste. Allein vom Umfang her: 230 Arbeiten von surrealistischen Künstlern werden 70 ihrer romantischen Vorläufer gegenüber gestellt. Um sie alle unterzubringen, muss die Kunsthalle neben ihrer Sonderausstellungsfläche auch ihre Rotunde und den Kuppelsaal nutzen. Und daher sämtliche Besucher durch das halbe Haus schicken, entlang einer Passage aus Kabinetten mit Hintergrund-Infos und interaktiven Angeboten – ein surreales Erlebnis eigener Art.

 

Info

 

Rendezvous der Träume Surrealismus und deutsche Romantik

 

13.06.2025 - 12.10.2025

 

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 21 Uhr

in der Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall 5, Hamburg

 

Katalog 45 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Ambitioniert ist aber auch der Anspruch, die Geistesverwandtschaft zwischen Romantik und Surrealismus in allen Verästelungen darzustellen. Das kann nur mit hochkarätigen Leihgaben gelingen, und die gibt es reichlich; so kommen allein aus dem Centre Pompidou mehr als 30 Exponate. Denn diese Schau ist die deutsche Station eines Kooperations-Projekts von fünf Museen; die „internationale Surrealismus-Feier“ war in anderer Form schon in Brüssel, Paris und Madrid zu sehen. Am Jahresende folgt Philadelphia.

 

Friedrich + Runge als Kronzeugen

 

Für die Teilnahme an diesem Reigen ist die Hamburger Kunsthalle prädestiniert: durch ihren umfangreichen Bestand an Werken von Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge, zwei Leitfiguren der romantischen Kunst in Deutschland. Sie dienen quasi als Kronzeugen für die These, dass die Surrealisten in vielerlei Hinsicht direkte Nachfolger der Romantiker seien; von ihnen hätten sie nicht nur etliche Motive und Sujets, sondern auch Geisteshaltung und Weltsicht übernommen.

Feature zur Ausstellung. © SAT.1 Regional


 

„Die Welt muß romantisirt werden.“

 

Eine These, die überrascht: So deutlich ist sie noch nie im deutschen Ausstellungsbetrieb formuliert worden. Und dann überrascht, dass sie überrascht – für jeden, der ein wenig über beide Strömungen weiß, liegen die Ähnlichkeiten auf der Hand. Beide verstanden sich als Rebellion gegen den Logozentrismus der jeweils vorangegangenen Epoche: die Aufklärung im 18. und den Positivismus im 19. Jahrhundert. Gegen die Reduktion des Lebens auf nüchterne Vernunft-Kalküle entwickelten Romantik wie Surrealismus umfassende Alternativ-Strategien zur Wiederverzauberung des Daseins.

 

Als Basis dient das klassische Postulat des Romantik-Vordenkers Novalis von 1798: „Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualitative Potenzirung. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es.“ Die Aufwertung des Alltäglichen durch Überhöhung zum Grandiosen soll also verlorene Sinnhaftigkeits- und Ganzheits-Erfahrungen wiederherstellen.

 

Mit dem geistigen Auge zuerst sehen

 

Damit dies gelingen kann, benötigt man Techniken, welche vergessene oder verschüttete geistige Ressourcen wieder zugänglich machen. So lautete das Credo von Caspar David Friedrich: „Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann fördere zu Tage, was du im Dunklen gesehen, daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“

 

Diesem Prinzip konnten die Surrealisten nur zustimmen: Sie wollten Fantasien und unbewusste Vorstellungen aller Art zutage fördern, aber auch Mythen, Magie, Alchemie und andere alogische Verfahren nutzen sowie Analogien zwischen Mikro- und Makrokosmos entdecken und in Bilder oder Worte bannen, um voneinander Getrenntes als Teile einer höheren Einheit sichtbar zu machen.

 

Von Klecksographie zu cadavres exquis

 

Wie das im Einzelnen aussah, fächert die Ausstellung in 14 Abteilungen auf. In manchen verblüfft die Kontinuität von romantischen und surrealistischen Ansätzen, etwa bei Automatismen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfand Justinus Kerner die „Klecksographie“: Er faltete mit Tinte betropftes Papier, so dass achsensymmetrische Kleckse entstanden, die er mit der Feder ergänzte, bis etwa die Umrisse eines Schmetterlings sichtbar wurden. Für Kerner war es die Natur selbst, die hier malte. Er fand viele Nachahmer; so sind vom romantischen französischen Literaten Victor Hugo etliche solcher Bilder überliefert.

 

Auch im Surrealismus spielten derartige Prozeduren eine zentrale Rolle: Als erster verwendete Óscar Dominguez so genannte décalcomanies, also Abklatschbilder. Auch Salvador Dalì, André Breton und Richard Oelze experimentierten ausgiebig damit. Max Ernst trieb das Miteinbeziehen natürlicher Strukturen weiter: mit seinen frottages, also dem Abreiben von Holz oder Steinen, und grattages, dem partiellen Abreiben einer Farbschicht. Zudem ließen die Surrealisten bei cadavres exquis dem Zufall freien Lauf, wenn mehrere Mitspieler gemeinsam ein Bild oder Sätze schufen, ohne Kenntnis der anderen Teile.

 

Dalì ahmt Füssli nach

 

Dass Träume für beide Kunstströmungen eine wichtige Inspirationsquelle waren, ist fast eine Binse. Doch die Ausstellung bebildert sie originell mit zwei Werken des Schweizer Maler Johann Heinrich Füssli – sein Bild „Der Alptraum“ von 1781 mit schnaubendem Ross und affenartigem Gnom, der auf einer Schlafenden hockt, darf als Initialzündung der Schauerromantik gelten.

 

Die Schau gesellt ihm ein ähnlich komponiertes und schauriges Gemälde von Dalì („Die Unsichtbaren – Schlafende, Pferd, Löwe“, 1930) und einen Klassiker von René Magritte bei. In „Das doppelte Geheimnis“ (1927) trennt der Belgier von einer Büste das Gesicht wie eine Eierschale ab – darunter erscheint ein undurchsichtiges Geflecht aus Strängen und Kugeln.

 

Max Ernst ahmt Friedrich nach

 

Gleichfalls maßen beide Strömungen der Natur große Bedeutung bei. Was manchmal zu analogen Bildkompositionen führt: Auf Caspar David Friedrichs Gemälde „Kreidefelsen auf Rügen“ (1818/22) schauen drei Staffagefiguren aus einer halbkreisförmigen Einbuchtung aufs Meer hinaus – die gleiche Halbkreisform findet sich bei der „Landschaft mit Meer“ (1922) von Max Ernst.

 

Und sein Mischwesen in Rückenansicht auf „Weib, Greis und Blume“ (1923) starrt ebenso ins Weite wie Friedrichs berühmter „Wanderer über dem Nebelmeer“ (1817). Ohnehin gilt Max Ernst als derjenige Surrealist, der am stärksten von der deutschen Romantik beeinflusst war – er las ihre Schriften im Original, während viele erst in den 1930er Jahren ins Französische übersetzt wurden.

 

Verwandschafts-Verhältnisse sind überall

 

Allerdings zeigt sich gerade beim Naturgefühl, dass die Parallelen zwischen beiden Richtungen Grenzen haben. Etwa bei Wolken-Darstellungen: Bei Romantikern wie Friedrich und Johann Christian Clausen Dahl sind sie schlicht erhabene Wetterphänomene. Bei den Surrealisten werden sie zur Chiffre für Ungreifbares oder Unerreichbares; wenn etwa Magritte einen Gipskopf damit bemalt und das keck als „Die Zukunft der Statuen“ (1932) betitelt. Oder Marcel Jean sie über Landschafts-Fragmenten hinweg ziehen lässt, die zwischen Fensterläden eines „Surrealistischen Schranks“ (1941) hervorlugen.

 

Ohnehin neigt das Kuratorinnen-Team dazu, wie eifrige Genealoginnen überall Verwandschafts-Verhältnisse zu vermuten; auch dort, wo sie allenfalls erahnbar sind. Dagegen werden entscheidende Unterschiede eher unterschlagen. Religiös geprägt, fassten die Romantiker Naturbetrachtung als Einblick in eine von der Allmacht Gottes bestimmte Transzendenz auf; ihr Kosmos war wohlgeordnet. Die atheistischen Surrealisten begriffen ihn dagegen als Summe turbulenter und oftmals chaotischer Kräfte, denen Menschen unterworfen waren wie alles andere.

 

Max Ernst ahmt Runge nicht nach

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Aber hier leben? Nein danke - Surrealismus + Antifaschismus" – facettenreiche Themenschau im Lenbachhaus, München

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Archiv der Träume – Ein surrealistischer Impuls" – große Eröffnungs-Schau des Archivs der Avantgarden, Dresden

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Surrealismus und Magie – Verzauberte Moderne" – opulent bestückte Themenschau im Museum Barberini, Potsdam

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Fantastische Frauen – Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo" – hervorragende Überblicks-Schau in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main

 

und hier einen Artikel über die Ausstellung "Toyen" – großartige Retrospektive der tschechischen Surrealistin in der Hamburger Kunsthalle

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Kosmos Runge – Der Morgen der Romantik" – exzellente Werkschau von Philipp Otto Runge in Hamburg + München

 

und hier eine Kritik der Ausstellung "Caspar David Friedrich – Kunst für eine neue Zeit"  – große Werkschau zum 250. Geburtstag in der Hamburger Kunsthalle.

 

Dieser Gegensatz wird besonders anschaulich an zwei Bildern, welche die Kunsthalle aus lokalpatriotischen Gründen heraushebt; beide befinden sich in ihrem Besitz. 1965 malte Max Ernst „Ein schöner Morgen“: zwei Farbfelder, oben gelb, unten rot, beide mit Binnenstrukturen und winzigen Akzenten versehen.

 

Mithilfe vieler argumentativer Girlanden im Katalog will Kuratorin Annabelle Görgen-Lammers glauben machen, dass ihn dazu das epochale Programmbild „Der Morgen“ (1808) von Philipp Otto Runge inspiriert habe. Bloß: Runges Bild ist eine vielfigurige Allegorie, die das romantische Vertrauen in die Weltordnung exemplarisch widerspiegelt. Von zwei Farbfeldern lässt sich das kaum behaupten.

 

Überfülle erlesener Leihgaben

 

Aber solches Überdehnen der Ausgangsthese lässt sich verschmerzen. Bei vielen anderen Motiven breitet die Ausstellung ganz erstaunliche Nachbarschaften zwischen Romantik und Surrealismus aus: von der Vorliebe für Ruinen und gewisse Gesteinsformationen wie Höhlen und Grotten über die Hochschätzung der Nacht und bizarrer Kreaturen, die im Dunklen ihr Unwesen treiben, bis zur schwärmerischen Feier der Liebe als Modus von Befriedigung und Erlösung par excellence.

 

Das bebildert die Schau mit einer Überfülle erlesener Leihgaben; angefangen mit neun großartigen Gemälden und Grafiken von Dalì, der ansonsten im Ausstellungsbetrieb wegen seines dubiosen Spätwerks weitgehend in Ungnade gefallen ist. André Masson ist mit gleich 21 Arbeiten vertreten, davon neun Gemälde – so konzentriert kann man sein vielgestaltiges Œuvre sonst nirgends in Deutschland erleben.

 

Bedeutendster Geburtstags-Beitrag

 

Von der eindrucksvoll eigenständigen Tschechin Toyen, die hierzulande immer noch zu wenig beachtet wird, sind acht Werke zu sehen; 2021/22 hatte ihr die Kunsthalle eine hervorragende Retrospektive gewidmet. Die steht bei Jane Graverol noch aus, doch in dieser Schau sind vier der makellos eleganten und zugleich raffiniert verschlüsselten Kompositionen der Belgierin zu entdecken. Mit dieser exzellenten Werkauswahl wird die Hamburger Schau zweifellos zum bedeutendsten deutschen Beitrag zum runden Surrealismus-Geburtstag.