
In Deutschland wäre diese Geschichte angesichts des demographischen Wandels undenkbar. Die Geburtenrate ist gering, auf dem Arbeitsmarkt fehlt Nachwuchs – also versuchen Staat und Unternehmen mit allerlei Anreizen, Ältere nach ihrer Pensionierung im Arbeitsleben zu halten. In Brasilien ist das Bevölkerungswachstum inzwischen mit nur noch 0,4 Prozent jährlich ähnlich gering wie in vielen Industriestaaten – doch Armut und Aufstiegswillen der jungen Generation setzen den Älteren eher zu, die Schalthebel bitteschön abzugeben.
Info
Das tiefste Blau
Regie: Gabriel Mascaro,
85 Min., Brasilien/ Mexiko/ Niederlande/ Chile 2025;
mit: Denise Weinberg, Rodrigo Santoro, Miriam Socarrás
Weitere Informationen zum Film
Zwangsweise ins Rentner-Reservat
Die in einem bescheidenen Holzhaus wohnende Tereza könnte das verschmerzen, drohte nicht eines Tages großes Ungemach: Sie soll, wie alle Senioren ab einer bestimmten Altersgrenze, in eine Kolonie im Landesinneren umgesiedelt werden, um Platz für Jüngere zu machen. Wie es in diesen Renter-Reservaten aussieht, wird nie gezeigt, doch allein schon der Weg dorthin lässt frösteln: Die rigorose Prozedur erinnert an schonungslose Zwangsabschiebung.
Offizieller Filmtrailer OmU
Wasserschnecken-Droge für Wartezeit
Mit einem Trick büxt Tereza aus; nun sucht sie nach einem Boot, das sie auf dem Wasserweg zu einem Startplatz für Kleinflugzeuge bringt. Fährmann Cadu (Rodrigo Santoro) lässt sich darauf ein, doch die beiden kommen nicht weit. Da er offenbar Konterbande schmuggelt, wird eine Weiterfahrt bald zu gefährlich. Während sie auf das Signal warten, dass die Passage wieder frei ist, vertreibt sich Cadu die Zeit mit Dschungel-Drogen – darunter dem blauen Sekret einer Wasserschnecke, das ihn in die Zukunft blicken lässt und dem Film seinen Namen gibt.
Danach trifft Tereza auf den Piloten eines Ultraleichtflugzeugs mit kaputtem Motor – der streikt hartnäckig, obwohl sie seine Reparatur bezahlt. Dafür erzählt ihr der Pilot vom Urwald-Casino „Goldener Fisch“, in dem man hohe Summen gewinnen oder verlieren kann. Wofür das gut wäre, erfährt sie von der betagten Schwarzen „Nonne Roberta“ (Miriam Socarrás), die ebenfalls mit ihrem Hausboot über die Flüsse der Region tuckert: Sie hat für viel Geld eine Lizenz erworben, die ihr die Abschiebung in eine Altenkolonie erspart. Reiche können sich von Regelbefolgung freikaufen.
Areligiöse verkauft Multimedia-Bibel
Roberta lebt davon, armen Flussanrainern für stattliche Preise eine Art wasserfester Multimedia-Bibel anzudrehen – ein mokanter Seitenhieb gegen die Leichtgläubigkeit von Anhängern evangelikaler Freikirchen, die in Brasilien enormen Zulauf haben. Obschon die angebliche Nonne freimütig zugibt, dass sie areligiös ist; aber irgendwie müsse sie ja ihren Unterhalt verdienen. Flugs ist sie ganz in Tereza vernarrt und lädt sie ein, fortan gemeinsam über die Wasserstraßen zu kreuzen. Womit jene – abgesehen von einem Abstecher ins Goldfisch-Casino – ihre Bestimmung findet.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Für immer hier" – brasilianisches Familien-Drama über Verschwinden in der Militärdiktatur von Walter Salles
und hier eine Besprechung des Films "Der Schamane und die Schlange – Embrace of the Serpent" – atemberaubendes Dschungeldrama am Amazonas von Ciro Guerra
und hier einen Beitrag über den Film "A Floresta De Jonathas – Im dunklen Grün" – Coming-of-Age-Drama im Regenwald Brasiliens von Sergio Andrade.
Sympathieträgerin für 60+-Kinobesucher
Unzählige Wasserarme, üppig wucherndes Grün und die windschiefen Pfahlbauten der Uferbewohner erscheinen so malerisch und idyllisch wie in einem Flusskreuzfahrt-Werbeprospekt. Was über die Schwächen der Handlung hinwegtröstet: Stationen und Episoden reihen sich kaum verbunden aneinander, und die Dialoge bestätigen das Offensichtliche. Solche Mängel kann Hauptdarstellerin Denise Weinberg angesichts ihrer begrenzten mimischen Fähigkeiten kaum ausgleichen.
Offenkundig setzt der Regisseur auf den Feelgood-Faktor einer alten Dame, die trotz prekärer Verhältnisse ihr Schicksal unerschrocken selbst in die Hand nimmt – mit dieser Sympathieträgerin mögen sich etliche 60+-Kinobesucher identifizieren. Warum die Berlinale-Juroren diesem Film aber den “Großen Preis der Jury” zuerkannten, lässt sich wohl nur mit der noch schwächeren Konkurrenz erklären.
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