
In einem Hotelzimmer hoch über der Glitzerwelt der chinesischen Metropole Macau haust Lord Doyle (Colin Farrell). Er ist ein professioneller Glücksspieler, der in den zahlreichen Casinos der Stadt ein- und ausgeht und den Gewinn mit vollen Händen verprasst. Die Verwüstungen in seiner Suite geben einen Eindruck von seinem Lebenswandel.
Info
Ballad of a Small Player
Regie: Edward Berger,
101 Min., Macau/ Großbritannien/ Deutschland 2025;
mit: Colin Farrell, Tilda Swinton, Fala Chen
Weitere Informationen zum Film
Kein Leben ohne Saus und Braus
Nun denkt er wirklich über Selbstmord nach, denn ein Leben ohne Saus und Braus kann er sich nicht vorstellen, und eines ohne Glücksspiel erst recht nicht. Ungeniert schöpft er alle Privilegien aus, die er als Weißer in der früheren portugiesischen Kolonie genießt. Er schätzt die Anonymität der Großstadt mit rund 700.000 Einwohnern, die 1999 zur chinesischen Sonderwirtschaftszone erklärt wurde. Sie erlaubt ihm, sich hier neu zu erfinden. Gleichzeitig kommt er nicht umhin, die Verachtung wahrzunehmen, die ihm dafür entgegenschlägt.
Offizieller Filmtrailer
Ähnlich wie in „Leaving Las Vegas“
Kurzum: Der Lord ist ein widersprüchlicher Typ und daher ein unzuverlässiger Erzähler. So nennt er sich einen high roller, also stinkreich, obwohl der Filmtitel ihn Lügen straft. Seine Betrachtungen gibt er zunächst als Off-Kommentar zum Besten. Dann lernt er Dao Ming (Fala Cheng) kennen, die ein privates Kreditgeschäft unterhält. Nun muss sie als seine Beichtmutter herhalten – tatsächlich scheint die junge Frau entschlossen, den Spielsüchtigen vor sich selbst zu retten.
In „Ballad of a Small Player“ kommen verschiedene westliche Bild- und Erzähl-Traditionen zusammen, angefangen mit der moralischen Parabel vom kurzen Rausch und tiefen Fall des Süchtigen. Sie wurde schon 1733/5 in der Bilderserie „A Rake’s Progress“ von William Hogarth illustriert, später in Romanen wie Hans Falladas „Der Trinker“ (1947) und in Kinofilmen wie „Leaving Las Vegas“ (1995) von Mike Figgis ausgemalt. An diese Darstellung eines Alkoholikers durch Nicolas Cage erinnert der Film von Edward Berger über weite Strecken.
Vom Lebemann zum Jammerlappen
Nur liegen die Umsätze der Glücksspiel-Industrie von Macau deutlich über denen in Las Vegas – also ist in diesem Zocker-Porträt alles größer, lauter, greller und exzessiver. Das gilt auch für Colin Farrells overacting. Solange seine Fassade steht, erscheint er bis in die letzte Faser seiner Garderobe, die farblich auf die Hoteltapeten abgestimmt ist, als eleganter Lebemann.
Sobald seine Identität aber Risse bekommt, zerfällt er eilends zu einem schlotternden, quengelnden Häufchen Elend aus Selbstmitleid und sinnloser Zerknirschung. So ziehen Schweißausbrüche, Panikattacken, Filmrisse, Fress- und Kotzanfälle eineinhalb Stunden lang in Großaufnahme am Publikum vorbei. Nur die Panorama-Ansichten über die Stadtlandschaft der Sonderwirtschaftszone gewähren kurze Erholungspausen.
Alle Kolonialmacht-Bewohner sind Doyle
In der Tat fügt der fernöstliche Schauplatz dem umständlich erzählten Fall seiner Hauptfigur noch eine Komponente hinzu. Doyle ist eben auch ein Erbe des britischen Kolonialreiches, das seit seinen Anfängen mit den unbrauchbarsten Vertretern ihrer Klassen besiedelt war. Kriminelle Proletarier, nutzlose Adlige, Glücksritter aller Art – sie alle bündeln sich in Colin Farrells Figur. Er spielt mit übergroßen Gesten einen gekränkten Narzissten, der mit seiner Selbstdemontage allen zur Last fällt und sich dabei zum Gespött macht.
Hintergrund
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und hier einen Bericht über den Film "Triangle of Sadness" – brillant ätzende Klassengesellschafts-Satire von Ruben Östlund, prämiert mit Goldener Palme 2022.
Wie bei Malcolm Lowry abgekupfert
Für Komik sorgt allein eine reiche alte Sino-Spielerin, die Doyle unentwegt beleidigt, weil sie längst weiß, was die Stunde geschlagen hat: Im Gegensatz zur chinesischen Wirtschaftsmacht ist das britische Imperium Geschichte und das US-amerikanische im Niedergang begriffen. Den Film macht auch nicht spannender, dass er einen unnötigen Umweg durch das Reich chinesischer Geistergeschichten nimmt.
Und seine Dialoge klingen, als hätte sie eine KI auf Basis der einschlägigen Film- und Literaturvorbilder kompiliert; beispielsweise dem Romanklassiker „Unter dem Vulkan“ (1947) von Malcolm Lowry, in dem sich ein trunksüchtiger Konsul a.D. vor exotischer Kulisse selbst auslöscht. Diesen Stoff verfilmte die Regie-Legende John Huston 1984.
Später Großer Alkoholiker
Auch der Film von Edward Berger basiert auf einem gleichnamigen Roman, den Laurence Osbourne 2014 veröffentlichte: Der 1958 geborene britische Autor scheint sich selbst als später Vertreter der „Great Alcoholics“ zu betrachten, zu denen auch Lowry und Ernest Hemingway gezählt werden. Wie dem auch sei: Selbstkritik, in welcher Form auch immer, wird unerträglich, wenn der Selbstkritiker dabei unablässig Nabelschau betreibt.
Ab 29.10. bei Netflix
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