August Diehl + Burkhard Klaußner

Das Verschwinden des Josef Mengele

Wirkt der falsche Pass echt? Josef Mengele (August Diehl) bei der Einreise in die Bundesrepublik 1956. Foto: © Lupa Film CG-Cinema Hype Studios
(Kinostart: 23.10.) Der Auschwitz-Lagerarzt Josef Mengele war einer der meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher, wurde aber nie gefasst. Seine 30-jährige Flucht durch Südamerika verfilmt der russische Regisseur Kirill Serebrennikow erschütternd eindrucksvoll – August Diehl in der Titelrolle ist phänomenal.

Im florierenden Genre der Aufarbeitung von NS-Vergangenheit gibt es hierzulande ein starkes Ungleichgewicht. Die allermeisten Beiträge in Wort, Schrift und Bild behandeln das Leid der Opfer; vermutlich, weil man dabei wenig falsch machen kann. Dagegen sind Darstellungen der Täter und ihrer Perspektive vergleichsweise selten – als würde man sich damit die Hände schmutzig machen oder dem Verdacht klammheimlicher Sympathien aussetzen.

 

Info

 

Das Verschwinden des Josef Mengele

 

Regie: Kirill Serebrennikow,

135 Min., Deutschland/ Frankreich/ Mexiko 2025;

mit: August Diehl, Burkhard Klaußner, Dana Herfurth

 

Weitere Informationen zum Film

 

Ausländische Autoren und Filmemacher sind da unbefangener. Der Franzose Jonathan Littell landete mit seinem umstrittenen Dokufiction-Roman „Die Wohlgesinnten“ aus der Sicht eines SS-Offiziers 2006 einen internationalen Bestseller. Mit „The Zone of Interest“ über den Alltag der Familie des Lagerkommandanten Rudolf Höß in Auschwitz nach einer Romanvorlage des Briten Martin Amis gelang dessen Landsmann Jonathan Glazer 2023 ein Welterfolg bei Kritik und Publikum – er wurde mit dem Auslands-Oscar prämiert. Sieben Jahre zuvor hatte der russische Regisseur Andrej Kontschalowski in Cannes den Regie-Preis für „Paradies“ erhalten: das kühn komponierte Porträt eines slawophilen SS-Offiziers, der eine KZ-Insassin liebt.

 

Teils Schwarzweiß, teils fahl farbig

 

Nun also ein Film über Josef Mengele (1911-1979); der Lagerarzt und „Todesengel von Auschwitz“ war mindestens ebenso berühmt-berüchtigt für seine menschenverachtenden Medizin-Experimente an KZ-Häftlingen wie für seine jahrzehntelange Flucht durch Südamerika – er wurde nie lebend gefasst. Dieser Film ist in ausgefeilt komponierten Schwarzweiß-Bildern gehalten wie „Paradies“, mit ein paar Rückblick-Passagen in ausgeblichenen Tönen früher Farbfilm-Aufnahmen wie „The Zone of Interest“.

Offizieller Filmtrailer


 

Regie-Tausendsassa + Allround-Autor

 

Gedreht hat ihn Kirill Serebrennikow. Der seit 2022 in Berlin lebende Regisseur ist ein Tausendsassa, der neben sieben Spielfilmen auch zahlreiche Theaterstücke und Opern in Russland und im deutschsprachigen Raum inszeniert hat. Und dabei stets seine geistige Unabhängigkeit bewahrte – das brachte ihm 2017 in Moskau einen mehrjährigen Hausarrest und Haft wegen angeblicher ‚Veruntreuung staatlicher Gelder‘ ein.

 

Serebrennikow hat allerdings keines der zahlreichen Sachbücher über Mengele verfilmt, sondern einen Roman. „Das Verschwinden des Josef Mengele“ erschien 2017 auf Französisch, im Folgejahr auf Deutsch. Sein Verfasser Olivier Guez ist Journalist und Schriftsteller mit vielen Interessen; er schrieb über die Entstehung des modernen Nahen Ostens ebenso wie über den Fußball-Mythos in Südamerika. Mit dem NS-Komplex und seinen Folgen hatte er sich zuvor erst einmal beschäftigt: in einem Sachbuch von 2007 über jüdisches Leben in Deutschland nach 1945.

 

Rattenlinien-Flucht + Heimat-Urlaub

 

Guez und mit ihm Serebrennikow interessieren sich weniger für den Massenmörder im Zweiten Weltkrieg, an dessen Untaten knappe Einschübe erinnern, als vielmehr für sein Verhalten danach. Nach kurzer Internierung und drei Jahren inkognito als Knecht auf einem Einödhof gelang ihm mithilfe seiner Familie die Flucht über Österreich und Italien auf einem Schiff nach Argentinien – diese von vielen Faschisten genutzte Route wurde „Rattenlinie“ genannt.

 

In Buenos Aires lebte er unter falschem Namen und verkehrte mit anderen NS-Schergen im Exil, darunter Adolf Eichmann. Dank familiärer Unterstützung war er finanziell unabhängig. Seine Verwandten in Deutschland besuchte Mengele sogar noch einmal 1956; damit setzt der Film ein. Der Vater Karl (Burkhard Klaußner) besitzt eine Landmaschinen-Fabrik, die im schwäbischen Günzburg der größte Arbeitgeber ist. Er ist sicher: Niemand würde es wagen, seinen Sohn – immerhin ein international gesuchter Kriegsverbrecher – während dessen Stippvisite im Stammsitz der Familie an die Behörden zu verraten.

 

Heirat mit NSDAP-Hochzeitstorte

 

Dem Film genügen wenige Szenen in holzgetäfelten Prunkräumen mit markigen Wortwechseln und zackigen Gesten, um deutlich zu machen, was eine Parallelgesellschaft ist. Sämtliche Mengeles geben sich fest davon überzeugt, dass der demokratische Spuk nicht lange dauern kann; das deutsche Volk werde sich bald erheben, um die Nationalsozialisten wieder an die Macht zu bringen.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Zone of Interest" – bestürzend lakonisches Drama über die Familie von Rudolf Höß, Lagerkommandant in Auschwitz, von Jonathan Glazer

 

und hier eine Besprechung des Films "Die Ermittlung" – Verfilmung des Theaterstücks von Peter Weiss  über den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963/5 von RP Kahl

 

und hier einen Beitrag über den Film "Paradies" – beeindruckend facettenreiches KZ-Drama von Andrej Kontschalowski

 

und hier eine Kritik des Films "Der Staat gegen Fritz Bauer" – berührendes Biopic über den Staatsanwalt, der Adolf Eichmann aufspürte, von Lars Kraume mit Burkhard Klaußner

 

und hier einen Bericht über den Film "Hannah Arendt" – faszinierendes Porträt der Philosophin während des Eichmann-Prozesses von Margarethe von Trotta.

 

Bis dahin lässt man es sich gut gehen, so gut es geht. 1958 heiratet Josef Mengele auf einem Landsitz in Uruguay mit Hakenkreuz-Blumenbeet im Vorgarten seine zweite Frau Martha im Kreise alter SS-Kameraden; mit reichlich Schampus und NSDAP-Emblem auf der Hochzeitstorte. Doch die Wiederauferstehung des Dritten Reiches lässt auf sich warten, und allmählich nehmen Ermittler seine Fährte auf. Er muss immer häufiger den Aufenthaltsort und die Identität wechseln, während der Strom von Zuwendungen aus dem Netzwerk treuer Volksgenossen zusehends versiegt.

 

Vom Herrenreiter zum Paranoia-Greis

 

Mengeles Odyssee aus Argentinien über Paraguay nach Brasilien, von den Gütern reicher Gönner bis zu Handlanger-Jobs in der Landwirtschaft, verfolgt der Film eher summarisch mit geschickt verzahnten Vor- und Rückblenden. Regisseur Serebrennikow interessiert sich vor allem für den fortschreitenden physischen und geistigen Verfall des Exilanten, den August Diehl phänomenal nuanciert verkörpert.

 

Anfangs gibt er noch den schneidigen Herrenreiter, der sich nur eine kurze Auszeit nimmt; mit Anzug, Trenchcoat, Hut und Sonnenbrille scheint er einem Film-noir-Klassiker entsprungen. Je länger seine Flucht dauert und je schäbiger die Stationen werden, desto nachlässiger kleidet er sich und desto haltloser wird sein Gerede. Am Ende in einem kleinen Haus in São Paulo erscheint er als leicht verwahrloster Greis, geplagt von Krankheiten und Paranoia.

 

Implosion bei Sohn-Besuch

 

Sein Hausmädchen würde ihn zwar trotzdem heiraten, aber nur, weil sie noch mittelloser ist als er. Dagegen lässt ihn der Besuch seines 1944 geborenen Sohnes Rolf (Max Bretschneider) vollends implodieren: Er leugnet plump jede Beteiligung an Gräueltaten und fabuliert von einem Rassenkrieg, den die Juden Deutschland aufgezwungen hätten. Das erinnert an die Kreml-Propaganda, derzufolge Russland sich gegen ein Nazi-Regime in Kiew verteidigen müsse. Geschichte wiederholt sich laut Marx: erst als Tragödie, dann als blutige Farce.