
Es ist Sommer; die Zikaden lärmen in der Hitze auf Korsika, während ein Mädchen ein frisch erlegtes Wildschwein ausnimmt. Lesia (Ghjuvanna Benedetti) macht das mit geübten Handgriffen, Ernst und Präzision. Zu genießen scheint sie es nicht, und auch bei der anschließenden Feier mit vielen Gästen wirkt sie seltsam abwesend. Aber ihr entgeht nicht, dass die Erwachsenen um sie herum immer wieder verstohlen zu ihr herübersehen.
Kingdom – Die Zeit, die zählt
Regie: Julien Colanna,
108 Min., Frankreich 2024;
mit: Ghjuvanna Benedetti, Saveriu Santucci, Anthony Morganti
Weitere Informationen zum Film
Unterschwellig spürbare Bedrohung
Normalerweise lebt Lesia bei ihrer Tante; ihre tote Mutter hat sie nie kennengelernt. Lächeln sieht man das Mädchen am Anfang nur, wenn sie mit Gleichaltrigen unterwegs ist. Der Vater und seine Vertrauten behandeln sie liebevoll, doch eine unterschwellige Bedrohung bleibt immer spürbar. Während in der Villa bekannte Politiker ein- und ausgehen, versucht Lesia heimlich, Kontakt zu ihren Freunden zu halten. Die Frage, ob dies vielleicht ein tödlicher Fehler war, wird sie bis zum Ende des Films begleiten.
Offizieller Filmtrailer
Regisseur vertraut mit Mafia-Milieu
Kurz darauf erschüttert die Nachricht von einer Autobomben-Explosion auf der Insel die fragile Ruhe im Haus der Mafiosi. Anspannung macht sich breit, denn hinter dem Anschlag scheint ein gegnerischer Clan zu stecken. Pierre-Paul fürchtet nun um sein Leben, und da auch Lesia (Ghjuvanna Benedetti) in Gefahr ist, muss sie mit ihm untertauchen. Ihre Flucht inszeniert Regisseur Julien Colonna in seinem Spielfilmdebüt kenntnisreich und atmosphärisch dicht.
Durch Lesias Augen, aber ohne ihr Vorwissen zu teilen, führt er das Publikum in ein Milieu ein, das ihm selbst aus Jugendtagen vertraut ist: Er ist der Sohn des mutmaßlichen Mafia-Bosses Jean-Jé Colonna, der 2006 bei einem Autounfall ums Leben kam. Mit diesem Film kehrt der Regisseur sozusagen in seine eigene Vergangenheit zurück; er erzählt das Geschehen konsequent aus Sicht der heranwachsenden Lesia im Jahr 1995.
Blicke sagen mehr als Worte
So finden die im Mafia-Film üblichen Ränke, Verhandlungen und Planspiele zunächst im Hintergrund statt. Auch gibt es zunächst kaum Gewalt zu sehen, nur Fernsehberichte über die Resultate der eskalierenden Fehde. Stattdessen konzentriert sich die Erzählung auf Lesia und ihren Vater, die auf ihrer Flucht erstmals ungestört Zeit miteinander verbringen können. Für ein paar Tage erleben sie paradoxerweise den Urlaub, den sie vorher nie gemeinsam haben konnten.
Die Geschichte spielt in einer Phase, in der heftige Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Clans stattfanden, die teilweise bis in die Gegenwart andauern. Colonna erzählt sie in ruhigen, oft sonnendurchfluteten Bildern, in denen ständig die Zikaden zirpen. Gesprochen wird wenig. Die Familienmitglieder sind aufeinander eingespielt, ihre Blicke sage mehr als Worte
Spiel mit Genre-Grenzen
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Il Traditore –Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra" - grandioses Anti-Mafia-Epos von Marco Bellocchio
und hier einen Berechnung des Films "Paranza – Der Clan der Kinder" – fesselndes Dokudrama über Teenie-Mafiosi in Neapel von Claudio Giovannesi
und hier einen Beitrag über den Film "Das Land der Heiligen – La Terra dei Santi" – origineller Film über die italienische Mafia aus Frauensicht von Fernando Muraca
und hier einen Bericht über den Film "Das Haus auf Korsika" – gelungenes Mehrgenerationen-Drama von Pierre Duculot über naturnahes Leben im Inselinnern.
Die Besetzung mit Menschen von der Insel und die ungewohnten korsischen Schauplätze verleihen der Geschichte Authentizität und Unmittelbarkeit. Hier wirkt nichts gestellt, nichts überhöht oder stilisiert. Es ist die Geschichte einer Vater-Tochter-Beziehung unter besonderen Umständen, die das Genre des Mafia-Films zwar teilweise bedient, aber auch seine Grenzen auslotet.
Macht, Geld + Blutrache
Wie in US-amerikanischen Gangsterfilmen etwa von Martin Scorsese können zu größter Brutalität fähige Männer gleichzeitig auch liebende Söhne, Väter oder Ehemänner sein. Aber die ungleich weniger glamouröse korsische Szenerie bleibt immer realistisch, und konsequenterweise wird auch Lesias Familie nicht verschont. Das unversöhnliche Ende mag Colonnas Weg sein, eigene Überlegungen zu Macht, Geld, Rache und vermutlich auch Schuldgefühle, zu verarbeiten und die eigene Familiengeschichte künstlerisch zu einem korsischen Abschluss zu bringen.
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