Radu Jude

Kontinental ’25

Der Obdachlose Ion (Gabriel Spahiu) treibt sich häufig im Dino-Park herum - hier nutzt er den parkeigenen Sessellift. Foto: Grandfilm
(Kinostart: 9.10.) Wie man mit dem Holzhammer moralisiert: Bevor er aus seinem Unterschlupf geworfen wird, begeht ein Obdachloser Selbstmord – das löst bei einer rumänischen Gerichtsvollzieherin heftige Gewissensbisse aus. Ihre folgenlose Zerknirschung inszeniert Regisseur Radu Jude wortreich und langatmig.

Das Werbeposter für „Kontinental ’25“ sieht aus wie ein Filmplakat aus den 1950er Jahren: rechts seitenfüllend das aquarellierte Antlitz von Hauptdarstellerin Eszter Tompa mit treuherzigem Augenaufschlag; links davon ebenfalls in Wasserfarben eine Gründerzeit-Hausfassade. Dieser Retro-Look ist kein Zufall oder Designer-Spleen, sondern dem Reklamemotiv für den Spielfilm „Europa ’51“ von Roberto Rossellini nachempfunden: Darauf blickt das gemalte Konterfei von Ingrid Bergman misstrauisch hinter stilisierten Gittern hervor.

 

Info

 

Kontinental '25

 

 

Regie: Radu Jude,

109 Min., Rumänien 2025;

mit: Eszter Tompa, Oana Mardare, Adonis Tanța

 

Weitere Informationen zum Film

 

In diesem Klassiker des italienischen Neorealismus von 1952 erlebt Ingrid Bergman eine radikale Wandlung: Von Schuldgefühlen nach dem Unfalltod ihres Sohnes gepeinigt, will die Industriellen-Gattin fortan Kranken und Elenden helfen – stößt aber dauernd auf Widerstand und wird am Ende in die Psychiatrie eingewiesen. Regisseur Rossellini, Bergmans damaliger Ehemann, konfrontierte in diesem Film eine Quasi-Heilige in der Nachfolge des Franziskus von Assisi mit der Nachkriegs-Realität, nach dem Motto: Wie würde Jesus sich verhalten, käme er jetzt zurück auf Erden?

 

Karikatur von Rossellini

 

Obwohl er die Ausgangsidee übernommen hat, ist der rumänische Regisseur Radu Jude nicht so ambitioniert: „Man könnte sagen, mein Film ist eine Art Karikatur von Rossellini.“ Denn von universeller Nächstenliebe und praktischer Mildtätigkeit, die vor 72 Jahren Ingrid Bergman zu ihren guten Taten bewogen, ist nichts mehr übrig. Es bleiben nur noch Schuldgefühle.

Offizieller Filmtrailer


 

Hilfloses + überfordertes Umfeld

 

Die Gerichtsvollzieherin Orsolya (Eszter Tompa) lebt und arbeitet in Cluj (Klausenburg). Als zweitgrößte Stadt Rumäniens ist die Metropole von Siebenbürgen zugleich das kulturelle Zentrum der großen ungarischen Minderheit im Land, der auch Orsolya angehört. Im Auftrag von Investoren muss sie eines Tages einen Heizungskeller räumen, in dem sich ein Obdachloser eingenistet hat; das alte Haus soll einem Neubau weichen. Doch anstatt seine Sachen zu packen und sich zu trollen, hängt sich der Mann am Heizungskörper auf.

 

Was Orsolya völlig aus der Bahn wirft: Obwohl sie sich um Fristverlängerung und schonendes Vorgehen bemüht hat, macht sie sich nun heftige Vorwürfe. Mit denen liegt sie ihrem Umfeld in den Ohren. Ihre Vertrauenspersonen reagieren darauf zwar unterschiedlich, aber gleichermaßen entweder hilflos oder überfordert. Ihr Vorgesetzter flüchtet sich in Zynismus. Ihr Mann resigniert, als sie den geplanten Familienurlaub in Griechenland platzen lässt, und reist allein mit den Kindern ab.

 

Monoton-statische Palaver

 

Ihre rumänische Freundin Dorina (Oana Mardare) engagiert sich bei einer NGO für arme Roma und legt Orsolya nahe, dasselbe zu tun – doch die belässt es bei Online-Spenden. Ihre ungarische Mutter steigert sich in antirumänischen Chauvinismus hinein, was im Streit endet. Der verkrachte Ex-Student Fred (Adonis Tanța) will sie mit anzüglichen Anekdoten aufheitern. Und ein seelsorgerisch versierter Priester (Șerban Pavlu) schärft ihr ein: Allein der Glaube an Gottes Gnade zählt.

 

Diese Gespräche lässt Regisseur Jude monoton vor sich hin laufen, bis zu 15 Minuten lang in einer statischen Einstellung. Nun gibt es etliche Kammerspiele, in denen nur redende Köpfe zu sehen sind – doch was sie sagen, fesselt durch die Bedeutung der Themen und geschliffene Dialoge. Anders hier: Dass Orsolya viel Mitgefühl, aber wenig Entschlusskraft aufbringt, ist spätestens nach der dritten Unterhaltung offensichtlich. Da hat der Zuschauer aber noch drei weitere, langatmige Palaver vor sich.

 

Standbild-Aufnahmen von Gebäuden

 

Radu Jude lässt die Protagonisten seiner Filme gern ausführlich salbadern. In „Scarred Hearts – Vernarbte Herzen“ (2016) schwadronieren redselige Insassen einer Heilanstalt. In „Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen“ (2018) – diese Aussage wird Ion Antonescu zugeschrieben, dem faschistischen Diktator Rumäniens von 1940 bis 1944 – beharken sich Befürworter und Gegner von Vergangenheits-Aufarbeitung ausgiebig. Und in „Bad Luck Banging or Loony Porn“ muss sich eine Lehrerin wortreich verteidigen, nachdem ein Privatporno mit ihr in Umlauf gekommen ist – dafür erhielt Jude auf der Berlinale 2021 den Goldenen Bären für den besten Film.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Bad Luck Banging or Loony Porn" – Sittendrama über Privatporno in Rumänien von Radu Jude, prämiert mit Goldenem Bären 2021

 

und hier eine Besprechung des Films "Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen" – rumänisches Vergangenheitsbewältigungs-Drama von Radu Jude

 

und hier einen Beitrag über den Film "Scarred Hearts – Vernarbte Herzen" – Romanadaption des rumänischen Quasi-„Zauberberg“ von Radu Jude

 

Damit außer talking heads noch anderes zu sehen ist, schneidet der Regisseur willkürlich Standbild-Aufnahmen von Fassaden dazwischen, von herausgeputzten Baudenkmälern im Stadtzentrum über Stahl-Glas-Bürotürme bis zu Reihenhaus-Monotonie in Neubaugebieten: Cluj hat in jüngster Zeit einen Boom der Tourismus- und IT-Branche erlebt.

 

Silberner Bär für bestes Drehbuch

 

Oder die Protagonisten spazieren durch einen Dino-Park im Wald mit mechanisch bewegten Saurier-Figuren. Oder sie gehen auf nächtliche Sauftour, samt one-night stand und bösem Kater am Morgen danach. Schon klar: Die prosperierende Mittelschicht amüsiert sich, während die Unterschicht leidet.

 

Dass Radu Jude dafür auf der Berlinale den Silbernen Bären für das beste Drehbuch erhielt, ist wohl nur mit der Vorliebe des Festivals für schlicht moralisierende Fabeln erklärbar, bei denen es auf die filmische Umsetzung wenig ankommt. Übrigens war „Europa ’51“ von Roberto Rossellini weiland kein Publikumserfolg; das Gleiche dürfte „Kontinental ’25“ widerfahren.