Oldenburg

Ludwig Münstermann

Ludwig Münstermann: Geflügelter Teufel vom Tossener Altar (Detail), 1631. Foto Sven Adelaide. Fotoquelle: Landesmuseum Oldenburg
Kunst-Revolutionär im Oldenburger Land: Für dortige Kirchen schnitzte Ludwig Münstermann um 1600 höchst eigenwillige Skulpturen. Sein Manierismus ist skurril, grotesk, gewagt und südlich von Bremen kaum bekannt. Das Landesmuseum widmet ihm die erste Einzelausstellung – eine echte Entdeckung!

Dieser Apoll ist geknickt, buchstäblich. Der sonst immer so strahlend schöne und jugendliche Gott hat eine herbe Schlappe einstecken müssen: Er ist im musikalischen Wettstreit mit dem biblischen König David unterlegen. Jetzt runzelt er mürrisch die Stirn, fingert nervös im Gewandtuch und sinkt in sich zusammen. Nichts an diesem holzgeschnitzten Apoll entspricht klassischen Regeln der Kunst; schön ist der betagte Bartträger mit seinem ausgemergelten Leib nach herkömmlichen Maßstäben schon gar nicht.

 

Info

 

Ludwig Münstermann

 

23.08.2025 - 30.11.2025

 

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr

im Landesmuseum Kunst & Kultur, Augusteum, Elisabethstr. 1, Oldenburg

 

Katalog 22,95  €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Stattdessen hat ihn der Bildhauer Ludwig Münstermann (um 1575-1637/8) mit Ausdruck gefüllt. Die ganze, aus einem Eichenholzblock geschnitzte Gestalt scheint voller ambivalenter Empfindungen zu stecken, zumal wenn man sie von verschiedenen Seiten betrachtet. Zuckt da ein mokantes Lächeln um die Lippen des Sängers, setzt er gar zum Widerspruch an? Von einer Kirchenorgel stammt das erstaunliche Meisterstück; es misst vom Lorbeerkranz bis zum sehnigen Zeh keine 100 Zentimeter.

 

40 Exponate, alle Fragmente

 

Die meisten Figuren Münstermanns sind noch kleiner. Nahezu alle finden sich bis heute im Oldenburger Land, wo sie entstanden sind: einer sehr flachen, dünn besiedelten Region zwischen Kuhweiden und Viehherden. Hätte der Hochbegabte dort nicht so vermögende Auftraggeber gefunden, wäre er vielleicht andernorts zu großem Ruhm in der Kunstgeschichte gelangt. Doch es kam anders. Nun bemüht sich das Oldenburger Landesmuseum nach Kräften um seine Anerkennung: Sämtliche 40 Stücke vom Meister und seiner Werkstatt aus eigenem Bestand werden in dieser ersten Ausstellung gezeigt, die allein ihm gewidmet ist. Es sind allerdings durchweg Fragmente, auch der Apoll.

Feature zur Ausstellung. © Landesmuseum Oldenburg


 

Schockverliebter Markus Lüpertz

 

Ihn entdeckte der renommierte Gegenwartskünstler Markus Lüpertz, selbst schon fortgeschrittenen Alters, vor einigen Jahren im Depot des Berliner Bode-Museums. Schockverliebt widmete er ihm rund 100 großformatige Zeichnungen und arbeitete sich in freier, teils wilder Manier daran ab, als seien Münstermanns betagte Schnitzwerke lebende Aktmodelle. Die ausgestellte Auswahl von Lüpertz‘ Blättern ermutigt zur subjektiven Annäherung an die antiklassischen Plastiken. Man muss nicht christlich gesinnt sein, um Münstermanns Arbeiten anrührend zu finden.

 

Da gibt es quicklebendige Engel, ausdrucksstarke Evangelisten, grimassierende Narrenköpfe und phantasievolle Architekturornamente; allesamt im Museum gestrandet. Sie stammen von Altären, Kanzeln oder Kaminen, die zerlegt, zersägt und in Einzelteilen verkauft wurden, als Münstermanns Kunst aus der Mode kam. Jedes Fragment ist für Überraschungen gut.

 

Queerer Teufel + lebendiges Skelett

 

So steht etwa ein queerer, non-binärer Teufel mit prallen Riesenbrüsten und einem Penis, der sich keck wie Schweineschwänzchen emporkringelt, tänzelnd auf einem Block. Der kokett sich an den Kopf greifende Bösewicht hat überdies Fellpuschel auf den Knien und Eselsohren, wirkt aber insgesamt nicht unsympathisch, eher humoresk. Seine rosig-rokokohafte Bemalung datiert aus späterer Zeit.

 

Vom Gegenstück, dem personifizierten Tod, sind nur die knöchernen Beine erhalten: Für ein Skelett wirken sie verblüffend lebendig. Das Antihelden-Duo stand einst hoch oben auf einem mehrstöckigen Altar, inmitten eines figurenreichen und theologisch ausgeklügelten Bildprogramms. Aber erst hier im Museum lässt sich in Nahsicht bewundern, wie virtuos Münstermann seinen Meißel handhabte.

 

Besichtigungstour durch 20 Orte

 

Über sein Leben ist wenig bekannt. Wohl um 1575 in Bremen geboren, war er zweimal verheiratet und seit 1599 eingeschriebenes Mitglied in der Hamburger Zunft der Drechsler. Dort hatte er seine Werkstatt, durfte aber gemäß den strengen Zunftregeln keine Aufträge als Bildhauer annehmen. Also arbeitete er für auswärtige Besteller. Seine besten Kunden waren zwei Grafen, die miteinander wetteiferten bei prächtigen Neuausstattungen von Kirchen in ihrem protestantischen Landstrich: Anton Günther in Oldenburg und sein Onkel Anton II. in Delmenhorst. Auch Dorfpfarrer und wohlhabende Bauern ließen sich nicht lumpen und bestellten Altäre oder Epitaphe, fürs ewige Angedenken.

 

Manche kostspieligen Werke blieben bis heute an ihrem Platz und dienen dem ursprünglichen Zweck im Gottesdienst. Die Erhaltung der empfindlichen Kostbarkeiten bereitet den schrumpfenden Gemeinden Kopfzerbrechen. Um alle zu besichtigen, könnte man 20 Ortschaften vom Nordseebad Tossens bis Hohenkirchen nördlich von Jever abklappern. Zumindest eine Stichprobe zur Ergänzung der Museums-Schau muss sein.

 

Opernglas für Zehn-Meter-Altar

 

In Varel am Jadebusen ist die mittelalterliche Schlosskirche jeden Tag geöffnet. Ihr gewaltiger Altaraufbau ragt zehn Meter hoch bis unters Dachgewölbe: ein edelsteinbunt glitzerndes Gedankengebäude, basierend auf Luthers Lehre und einer überbordenden Künstler-Phantasie. Am besten mit Opernglas zu betrachten: Der Altarraum ist alarmgesichert, Nähertreten verbietet sich.

 

Da sitzen die Jünger mit Christus zu Tisch und gestikulieren erregt. Münstermann hat die Abendmahls-Szene genau im Zentrum des Altars platziert, wie von Luther empfohlen. Die Gläubigen hatten das feine Alabasterrelief vor Augen, wenn sie selbst das Abendmahl empfingen. Eine Galerie von Schönheiten aus weiblichen Tugend-Allegorien mahnt einen gottgefälligen Lebenswandel an: von Mäßigung bis Gerechtigkeit.

 

Von Motiv-Drucken inspiriert

 

Und die Wappen der Obrigkeit sind unübersehbar; die Auftraggeber und ihre gelehrten Berater gaben die Inhalte vor. Dabei blieb das Kolorieren laut Zunftregeln anderen überlassen: Dazu mussten Fassmaler ran, die auf die Fassung – sprich: Bemalung und Vergoldung von Holzplastiken – spezialisiert waren. Teils holzsichtig, teils in arg greller Intensität hat man die Farbigkeit rekonstruiert.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Fantastische Welten – Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500" – hervorragender Überblick über nordeuropäischen Manierismus in der Kunst um 1500 in Frankfurt/ Main + Wien

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Maniera. Pontormo, Bronzino und das Florenz der Medici" – gute Einführung in den florentinischen Manierismus im Städel Museum, Frankfurt am Main

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "El Siglo de Oro – Die Ära Velázquez" – brillanter Überblick über spanische Malerei + Skulptur im Manierismus + Barock in Berlin + München.

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Donatello – Erfinder der Renaissance" – famose Retrospektive seiner Skulpturen und Reliefs in der Gemäldegalerie, Berlin.

 

Woher dieser famose Münstermann seine Ideen bezog und in welchem Kontext seine Arbeiten entstanden, erschließt die kompakte Ausstellung im Landesmuseum mit wenigen ausgewählten Vergleichswerken. Mit so genannten Stichwerken, also Bänden voller Drucke zu einzelnen Motiven, verschaffte der Bildhauer sich Kenntnis der neuesten Kunstströmungen. Um 1600 machte der Manierismus europaweit Furore – von Giambologna in Italien über Bartholomäus Spranger in Prag bis zu Adriaen de Vries in den Niederlanden.

 

Exzentrik anstelle von Harmonie

 

Anstelle der idealschönen Ausgewogenheit und Harmonie der Renaissance war nun die „Maniera“ gefragt, die individuelle Handschrift und der übersteigerte Ausdruck. Auch intellektuelle Spitzfindigkeiten, Witz und überspannte Emotionen gehörten dazu. Und eine Vorliebe für extrem überstreckte, nervös bewegte Gestalten; sie waren ein Markenzeichen von Münstermann. Nur arbeitete er in der abgelegenen norddeutschen Provinz, nicht am Kaiserhof in Prag.

 

Hoch oben über einer Empore in der Kirche von Varel schwebt die goldglänzende „Fama“, die Personifikation des Ruhms. Einst posaunte sie über dem Grafengestühl den Ruhm des lokalen Herrscherpaares hinaus. Jetzt flattert sie da oben ziemlich vereinzelt, fast verloren. Fast könnte man sie übersehen. Aber sie lässt nicht nach bei ihrem fröhlichen Posauneblasen und ehrt nun vor allem ihren Schöpfer: ein kleines Meisterwerk.

 

Nachfrage ohne Nachruhm

 

Ihr gertenschlanker, anmutiger Körper spannt sich dynamisch wie ein Flitzebogen und strahlt dabei im Fliegen unbegreifliche Lässigkeit aus. Münstermann vermochte es oft in seinen Werken, altbekannte Themen ganz frisch, originell und anders zu gestalten. Bescheiden war er nicht: Seine Signatur hat der Bildhauer meist an prominenter Stelle hinterlassen. Das war eine Sache der Selbstvermarktung. Die Nachfrage ließ nicht auf sich warten – nur der Nachruhm blieb aus.