
Ein Zug fährt durch die Schweizer Landschaft. Im dämmrig beleuchteten Waggon blickt ein Mann mittleren Alters (Albrecht Schuch) aus dem Fenster. Seine Miene bleibt starr, als der Schaffner sein Ticket kontrolliert. Wenig später erklärt ihm ein Polizist in einem fensterlosen Raum, dass ein Zugpassagier ihn als Anatol Stiller erkannt habe – einen Künstler aus Zürich, der vor sieben Jahren spurlos verschwand und seitdem polizeilich gesucht wird. Er wird eines Mordes beschuldigt. Der Mann antwortet dem Beamten: „Ich bin nicht Stiller. Ich bin James Larkin White, US-amerikanischer Staatsbürger.“
Info
Stiller
Regie: Stefan Haupt,
99 Min., Schweiz/ Deutschland 2025;
mit: Albrecht Schuch, Paula Beer, Max Simonischek
Weitere Informationen zum Film
Vielstimmiger Bericht
Regisseur Stefan Haupt hat den 1954 publizierten Roman von Max Frisch verfilmt; das Buch wurde ein großer Erfolg und machte den Autor berühmt. Er erzählt anfangs mithilfe von Haft-Aufzeichnungen, später aus der Perspektive des Staatsanwalts – ein Geflecht aus Stimmen, in dem Erinnerung, Projektion und Selbstbehauptung sich ständig überlappen. Gerade die bewusst unzuverlässige Schilderung macht den Bericht eindruckvoll: So scheinen Stiller und White manche Tatsachen-Behauptungen zu teilen, während sich andere widersprechen. Bisher galt es als unmöglich, diese vielschichtige Textlogik in Film zu übertragen. Haupt hat es gewagt – und es ist ihm fast gelungen.
Offizieller Filmtrailer
Zelle als Laboratorium zur Selbstbefragung
Die lineare Handlung wird immer wieder von Schwarzweiß-Rückblenden in die Vergangenheit unterbrochen. Dabei wird der jüngere Stiller nicht von Schuch, sondern von Sven Schelker verkörpert – das sorgt für Konfusion. Die Verfilmung des existentialistischen Spiels über Wahrheit, Bürokratie und Erinnerung handelt nur vom ersten Teil des Buches von seiner Verhaftung bis zur schleichenden Erkenntnis, dass der Mann vielleicht doch Stiller ist. Regisseur Haupt verkürzt den Stoff auf einen Krimiplot und damit auf die psychologische Frage nach Stillers unklarer Identität: das ständige Pendeln zwischen Wahrheit und Täuschung. Wer ist hier wer? Und wer bestimmt das?
Diese existentielle Unsicherheit darzustellen, gelingt dem Zürcher Regisseur gut, doch geht er nicht darüber hinaus. Weder baut sich ein Spannungsbogen auf, noch gelingt eine emotionale Bindung zu den Figuren. Der Film bleibt formal präzise, aber kühl und distanziert. Vielleicht liegt es daran, dass nie klar wird, was eigentlich auf dem Spiel steht – außer einer möglichen Haftstrafe. Die Zelle des Mannes wirkt weniger wie ein Gefängnis, sondern eher wie ein Laboratorium zur Selbstbefragung. White darf sie regelmäßig verlassen, begleitet vom Staatsanwalt, der vom skeptischen Ermittler zum beinahe freundschaftlichen Gesprächspartner wird. In einer ihrer Unterhaltungen fällt der Satz: „Entweder wir verzweifeln daran, wir selbst sein zu wollen – oder daran, nicht wir selbst sein zu wollen.“
Gelungene 1950er-Jahre-Inszenierung
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension des Films "Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste" – Drama über ihre toxische Beziehung mit Max Frisch von Margarethe von Trotta
und hier eine Besprechung des Films "Der Kreis" – gelungenes Doku-Drama über Zürich als Schwulen-Mekka Europas in den 1950/60er Jahren von Stefan Haupt
und hier einen Kritik des Films "Zwingli - Der Reformator" – informatives Biopic über den Martin Luther der Schweiz von Stefan Haupt
und hier einen Beitrag über den Film "Rückkehr nach Montauk" – beeindruckende Adaption der Erzählung von Max Frisch durch Volker Schlöndorff
und hier einen Bericht über den Film "Sagrada – Das Wunder der Schöpfung" – anschauliche Doku über den Bau der Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona von Stefan Haupt.
Auch die Inszenierung der 1950er Jahre ist durchaus gelungen: Überall stehen Möbel der Nachkriegsmoderne herum, die Münder der Frauen ziert roter Lippenstift, während die Männer markige Sprüche klopfen. Nur die Docker Cap-Mütze, die White trägt, lässt ihn eher als heutigen Hipster aus Kreuzberger wirken denn als Lebenskünstler auf der Flucht. Wobei zwei Aspekte deutlich machen, wie altmodisch und zugleich aktuell der 70 Jahre alte Roman ist.
Zumutung, Identität besitzen zu müssen
Im Zeitalter von KI-Forensik und digitaler Gesichtserkennung wäre Stillers Verwirrspiel unmöglich – er würde sofort eindeutig identifiziert. Sehr zeitgenössisch wirkt hingegen die Kritik an einem auf Stärke und Macht basierenden Verständnis von Männlichkeit. In Rückblenden zeigt sich Stillers Verletzlichkeit; etwa wenn er zusammenbricht, weil er sich als beruflich gescheitert empfindet.
Doch Roman und Film behandeln nicht Schuld oder Versagen, sondern die Zumutung, eine Identität besitzen zu müssen. Dadurch wirkt der Stoff fast zeitlos. Allerdings ist die Adaption nicht eindringlich genug, um Stillers Problem wirklich spürbar zu machen. Der Film verliert sich in seiner Aufgeräumtheit, wo Chaos sein müsste, und in seiner Kälte, wo Erschütterung nötig wäre. Seine kühle Präzision trägt halbwegs die knapp 100 Minuten bis zum Abspann.
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