Bern

Kirchner × Kirchner

Ernst Ludwig Kirchner: Sonntag der Bergbauern (Detail), 1923-24/26; Öl auf Leinwand, 170 x 400 cm, © Bundesrepublik Deutschland. Fotoquelle: Kunstmuseum Bern
Kunst-Import aus dem Bundeskanzleramt: Dort hängt normalerweise „Sonntag der Bergbauern“. Diese Leihgabe ziert nun als Blickfang die große Retrospektive von Ernst Ludwig Kirchner im Kunstmuseum. Sie soll die Wirkung einer Vorläuferschau von 1933 nachzeichnen, löst diesen Anspruch aber nur teilweise ein.

Keine Großstadtszene oder Zirkusreiterin – also Motive, die man meist mit Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) in Verbindung bringt. Stattdessen ein fast schon idyllischer „Sonntag der Bergbauern“ und Ansichten der Alpen: Das Kunstmuseum Bern präsentiert den Expressionisten, der ab 1917 in der Schweiz lebte, als Vertreter eines „Neuen Stils“ – so inszenierte er sich selbst 1933 in einer großen Retrospektive. Dafür spannt das Museum den Bogen von frühen Akten bis zum Davoser Spätwerk.

 

Info

 

Kirchner × Kirchner

 

12.09.2025 - 11.01.2026

 

täglich außer montags 10 bis 17 Uhr,

dienstags bis 20 Uhr

im Kunstmuseum, Hodlerstrasse 8, Bern

 

Katalog  49 CHF

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

„Eine Ausstellung farbig und formal richtig hängen ist dasselbe als wie ein Bild gestalten“, war Ernst Ludwig Kirchner überzeugt. Das schrieb er zumindest an den damaligen Leiter der Berner Kunsthalle, in der er 1933 seine größte Werkschau selbst kuratieren durfte. Es wurde die Ausstellung seines Lebens mit mehr als 290 Exponaten – Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen aus allen Schaffensperioden.

 

Kollaps + Medikamentensucht

 

Im Ersten Weltkrieg hatte sich der Expressionist und Mitgründer der 1913 aufgelösten Künstlervereinigung „Die Brücke“ als Freiwilliger gemeldet. 1915 erlitt er einen Zusammenbruch, wurde medikamentenabhängig und in Sanatorien eingeliefert. Seit 1917 lebte in der Schweiz; im Folgejahr ließ er sich dauerhaft in Davos nieder. Von der Bergwelt erhoffte er sich nicht nur Heilung; sie erweiterte auch das Spektrum seiner Motive.

Trailer zur Ausstellung. © Kunstmuseum Bern


 

32 Bilder in „Entartete Kunst“-Schau

 

Zwar stellte Kirchner weiter in Deutschland aus und hatte dort auch die meisten Abnehmer. Doch mit der NS-Machtübernahme 1933 wurde seine Situation schwierig. Öffentliche Aufträge blieben aus und die Nazis diffamierten ihn: 1937 wurden mehr als 600 seiner Werke aus deutschen Museen beschlagnahmt, 32 davon in der Femeschau „Entartete Kunst“ gezeigt.

 

Umso wichtiger war für Kirchner, dass er 1933 die Chance zu einer großen Ausstellung in der Schweiz erhielt. Wobei er sich als Künstler mit großer thematischer und stilistischer Bandbreite präsentieren wollte, der auch ausgiebig Sujets aus seiner Wahlheimat aufgriff. Für die Berner Schau legte Kirchner die Auswahl der Exponate und deren Hängung fest, indem er Bilder aus verschiedenen Werkphasen ohne chronologische Abfolge kombinierte; dadurch wurden Motive mit Blickachsen verbunden und Farbakkorde deutlich.

 

Retrospektive als „künstlerisches Manifest“

 

Kirchner gestaltete auch das Plakat zur Schau und den Katalog; er verfasste sogar den Begleittext unter einem Pseudonym. Außerdem datierte er einige Werke um oder überarbeitete sie, um zu veranschaulichen, wie sich daraus seine künstlerische Entwicklung ableiten ließ. „Die Retrospektive von 1933 war weit mehr als eine Ausstellung – sie war ein künstlerisches Manifest“, betont Kuratorin Nadine Franci.

 

Ihre aktuelle Gedenkschau „Kirchner x Kirchner“ solle nicht den Vorläufer vor 92 Jahren rekonstruieren; das sei allein schon wegen der großen Zahl von 290 Exponaten unmöglich. Vielmehr will Franci den Aufbau, die Absichten und Wirkung der damaligen Ausstellung aus gegenwärtiger Perspektive beleuchten – und der Frage nachgehen, ob und wie die einstige Selbstinszenierung des Expressionisten seine Rezeption bis heute beeinflusst hat.

 

Zwei Vier-Meter-Bilder dominieren

 

Ein ehrgeiziges Unterfangen, das nur teilweise eingelöst wird: In fünf Museumssälen sind 65 Werke von Kirchner zu sehen. Während seine Anfänge mit Aktbildern und bekannten Gemälden wie „Straße, Dresden“ (1908/1919) oder „Straße mit roter Kokotte“ (1914/1925) vertreten sind, ist der zweite Raum als „Schlüssel zum Werk“ konzipiert. Druckgrafik und Zeichnungen führen vor, wie Kirchner seine Ideen visuell umsetzte. Dem hatte er schon 1933 großen Stellenwert eingeräumt: mit 130 Arbeiten auf Papier.

 

Der zentrale große Saal ist dann explizit der damaligen Retrospektive gewidmet, allein mit Werken aus Kirchners Schweizer Zeit. Neben Figuren-Darstellungen und Straßenszenen aus Davos dominieren Berglandschaften. Blickfang sind zwei nebeneinander hängende, farbenprächtige Gemälde, je 1,70 Meter hoch und vier Meter lang: „Alpsonntag, Szene am Brunnen“ (1923/29) und sein Pendant „Sonntag der Bergbauern“ (1924/26) empfingen schon damals die Besucher.

 

Ruhige Genre-Idylle mit klarem Aufbau

 

Dass es ihm gelungen ist, die beiden Riesenformate nach langer Zeit wieder zusammenzuführen, feiert das Museum als gelungenen Coup – vielleicht gab das den Ausschlag, die jetzige Ausstellung um sie herum zu gruppieren. Kirchner betrachtete beide Gemälde als Einheit. Doch 1933 konnte sich das Berner Museum lediglich zum Kauf des „Alpsonntags“ entschließen. Der „Sonntag der Bergbauern“ verblieb zunächst im Nachlass und kam Mitte der 1980er Jahre in die deutsche Bundeskunstsammlung. Helmut Schmidt ließ die Leinwand im Kabinettssaal des Bundeskanzleramts aufhängen; nun wurde es von dort aufwändig in die Schweiz transportiert.

 

Auf dem Gemälde ist vergnügtes, sonntäglich gekleidetes Bauernvolk vor dem Hintergrund der Alpengipfel zu sehen. In der Mitte liegt ein greiser Almbauer, auf seinen Ellbogen gestützt; um ihn scharen sich jüngere Menschen, Paare und spielende Kinder. Obwohl die Szene in unterkühlte Blautöne getaucht ist, wirkt sie wie eine Genre-Idylle mit ruhigem, klaren Aufbau; die Körper sind aus einheitlich blauen und rotbraunen Farbflächen zusammengesetzt. Keine Spur von den impulsiv-nervösen Großstadt-Momentaufnahmen mit verzerrten Perspektiven, spitzwinkligen Straßen oder Leibern, die Kirchner vor dem Weltkrieg gemalt hatte.

 

Einziger Schweiz-Ankauf zu Lebzeiten

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Unzertrennlich – Rahmen und Bilder der Brücke-Künstler" – originelle Themen-Schau über die Expressionisten-Gruppe mit Werken von Ernst Ludwig Kirchner im Brücke-Museum, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Farbenmensch Kirchner" – gelungene Retrospektive von Ernst Ludwig Kirchner in der Pinakothek der Moderne, München

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Irma Stern – eine Künstlerin der Moderne zwischen Berlin und Kapstadt" – erste Retrospektive der deutsch-südafrikanischen Malerin seit 29 Jahren im Brücke-Museum, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "Von Beckmann bis Warhol" zur "Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts – Die Sammlung Bayer" mit einem Grafik-Zyklus von Kirchner im Martin-Gropius-Bau, Berlin. 

 

Das in Grüntönen gehaltene Gegenstück „Alpsonntag. Szene am Brunnen“ machte Kirchner laut eigener Aussage „Freude, dieses friedliche gesunde Leben unserer Bergbauern inmitten ihrer Landschaft zu gestalten“, nachdem er sechs Jahre lang die Sommer auf der Alp verbracht habe. Ob er es tatsächlich so empfand oder Schweiz-Klischees bedienen wollte, bleibt offen. Immerhin griff das Museum seinerzeit zu – es war das einzige Mal zu Kirchners Lebzeiten, dass ein Bild von ihm in der Schweiz angekauft wurde.

 

Jedenfalls konnte der Expressionist mit den beiden monumentalen Gemälden vorführen, dass er sich nicht nur auf Motive seiner Wahlheimat Davos verstand, sondern auch öffentliche Räume mit großen Formaten ausstaffieren konnte – zuvor hatte sich sein Projekt zerschlagen, den Festsaal des Museums Folkwang in Essen auszuschmücken.

 

Kirchner bleibt „Brücke“-Maler

 

Zwei weitere Räume sind den Themen Porträt, Akt und Tanz mit Bildern von 1905 bis 1933 und dem “visionären Spätwerk“ gewidmet; allerdings wirkt die Zusammenstellung etwas beliebig. Nach und nach weicht der impulsive Pinselstrich breiteren Farbflächen oder -streifen, die mitunter ineinanderfließen oder von starkfarbigen Linien durchzogen werden; das lässt manche Motive fast schon abstrakt wirken.

 

Bei diesem „Neuen Stil“, den Kirchner als Höhepunkt seines Werks ansah, hatte er seine wilden Anfänge als „Brücke“-Maler hinter sich gelassen. Doch mit ihnen wird er von der Nachwelt identifiziert – dagegen hat die große Retrospektive 1933 ihren Blick auf sein Schaffen kaum beeinflusst.