Im Ausstellungs-Saal mit 13 gleichzeitig laufenden Filmen sprechen allerlei Stimmen laut und leise durcheinander; ohne dass verständlich wäre, was sie sagen. Einmal pro Durchlauf bilden alle Stimmen gemeinsam zwei Akkorde – eine perfekt eingestellte Ideen-Maschine, die unaufhörlich mit sich selbst durch eine einzige Person spricht: die zweifache Oscar-Preisträgerin Cate Blanchett.
Info
Julian Rosefeldt - Manifesto
10.02.2016 - 06.11.2016
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
im Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart, Invalidenstraße 50–51, Berlin
Katalog 27 €
05.06.2016 - 29.01.2017
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
dienstags bis 20 Uhr
im Sprengel Museum, Kurt-Schwitters-Platz, Hannover
13.08.2016 - 24.09.2016
täglich außer montags
10 bis 20 Uhr,
in der Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord
16.12.2016 - 14.05.2017
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr
in der Staatsgalerie,
Konrad-Adenauer-Str. 30-32, Stuttgart
Von der Börse bis zum Friedhof
Darin tritt die Star-Schauspielerin in 12 verschiedenen Kurzfilmen mit ebenso vielen Rollen auf. In jedem Film trägt sie einen poetischen Monolog vor; dessen Text hat Rosefeldt aus Manifesten von Avantgarde-Künstlern der klassischen Moderne bis zur Gegenwart kompiliert. Die Schauplätze sind zeitgenössisch: von der Börse bis zum Friedhof, vom TV-Studio bis zur Müllverbrennungs-Anlage.
Wir werden euch eines Tages richten!
In den unterschiedlichen Szenarien liegt der ästhetische Reiz des Werks. Zugleich werden auch Charakteristika von Manifesten als literarischer Form deutlich: radikale Kritik am Bestehenden, Aufrufe zum Bruch mit der Vergangenheit und verheißungsvolle Zukunftsvisionen, vorgetragen mit lehrhafter Dogmatik.
Dabei stellt Blanchett ihre enorme Wandlungsfähigkeit und Spielfreude unter Beweis. Sie schlurft etwa als missmutiger Obdachloser durch eine postindustrielle Ruinen-Landschaft und brüllt im Namen der Situationisten: „Wir sind es, die euch eines Tages richten werden!“ Oder sie schleudert als ungnädige Choreografin einem Tanz-Ensemble die Forderungen der Fluxus-Bewegung um die Ohren: „Wer hat denn die verdammte Zeit übrig, ständig den status quo aufrecht zu erhalten?“
Film zur Ausstellung mit Statements von Julian Rosefeldt; © Freunde der Nationalgalerie
Mit Zeit + Logik tabula rasa machen
Als Grundschul-Lehrerin lässt sie ihre ABC-Schützen brav die Grundsätze des dänischen Filmregisseur-Quartetts „Dogma 95“ wiederholen: „Es darf NUR am setting gedreht werden.“ Und am großbürgerlichen Esstisch spricht sie im Familienkreis das Tischgebet mit den Worten von Claes Oldenburgs Bekenntnis von 1961 zur Pop Art: „Ich bin für eine Kunst, die sich mit dem alltäglichen Scheiß beschäftigt und dabei immer obenauf bleibt.“
Der Simultan-Vortrag verdeutlicht, was die Manifeste gemeinsam haben: Zornig und furios verwerfen sie das schlechte Bestehende und wollen tabula rasa machen. Verachtet wird die Nostalgie, mit der sich das establishment an die Vergangenheit klammert, oder gleich die ganze herkömmliche Ordnung der Gesellschaft und Dinge. Stattdessen wird mit hemmungslosem Subjektivismus völlig Neues heraufbeschworen: bis hin zu Ideen, die den linearen Zeitverlauf und die konventionelle Logik aufbrechen sollen.
Vom Futurismus zum elektronischen Parkett
Dabei macht die Parallel-Montage der Filme mit ein und derselben Hauptdarstellerin und monotonen Endlosschleifen deutlich, wie stellenweise austauschbar diese so leidenschaftlich formulierten Aufrufe sind. Sie neutralisieren einander zu einer Art trance, die ihre Energie im Sande verlaufen lässt. Gefangen in der ewigen Wiederholung, werden sie verwechselbar – und damit ihre Ziele ad absurdum geführt.
Hintergrund
Offizielle Website von Julian Rosefeldt
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Der Stachel des Skorpions" zum Surrealismus heute als "Ein Cadavre exquis nach Luis Buñuels »L’Âge d’or«" mit dem Beitrag "Deep Gold" von Julian Rosefeldt in der Villa Stuck, München
und hier eine Besprechung der Ausstellung “Heimatkunde – 30 Künstler blicken auf Deutschland” mit einem Beitrag von Julian Rosefeldt im Jüdischen Museum Berlin.
und hier einen kultiversum-Bericht über die Ausstellung "Living in Oblivion" mit Werken von Julian Rosefeldt als "Vattenfall Contemporary"-Preisträger 2010 in der Berlinischen Galerie, Berlin.
Im 1920er-Jahre-Kabarett von Buñuel
Solche Gegensätze verschiedener Zeitebenen, die sich in unterschiedlichen Räumen widerspiegeln, verwendet Rosefeldt oft in seinen Arbeiten. In „The Shift“ (2008) lässt er einen Wachmann durch menschenleere Industriewelten patroullieren, die veraltet oder fiktiv anmuten, bis er durch ein Tunnelsystem in eine gleißend helle Eiswüste gelangt. In „American Nights“ (2009) inszeniert er den Mythos der US-amerikanischen frontier mit Western-Szenen und TV-Schnipseln aus politischer Berichterstattung.
Ähnlich verschachtelt ist auch „Deep Gold“ (2013/2014), eine Art fiktives remake des surrealistischen Filmklassikers „L’Âge d’Or – Das Goldene Zeitalter“ (1929/30) von Luis Buñuel. Rosefeldts 18-minütiger Kurzfilm geht von einer Passage im Original aus, ist als Traumszene im night club „Deep Gold“ arrangiert und kehrt wieder zu Buñuel zurück. Dazwischen wird er anachronistisch: das 1920er-Jahre-Kabarett enthält Dinge, die damals noch nicht existierten, etwa ein Poster der Occupy-Bewegung.
Durch die orgiastischen Ausschweifungen im Club taumelt ein hilflos umherirrender Protagonist; er findet sich am Ende zwischen Filmkulissen wieder. Seine Desillusionierung ist symptomatisch: Skepsis an Sinn und Wirksamkeit vermeintlich revolutionärer Veränderungen zieht sich durch Rosefeldts gesamtes Werk – seien es politische Umstürze oder künstlerische Avantgarden, wie in „Manifesto“.