
1968: Die Abkehr vom Bürgertum und sein Zerfall, der eine ganze Generation in der westlichen Welt prägt, ist wesentlicher Bestandteil des Films „Teorema“ von Pier Paolo Pasolini, der 1968 ins Kino kommt. In seinen Filmen äußert sich der Regisseur und Dichter häufig abschätzig oder verächtlich über das Bürgerliche – und thematisiert zugleich die Abgründe, die es hervorbringt.
Info
Teorema –
Geometrie der Liebe
Regie: Pier Paolo Pasolini,
98 Min., Italien 1968;
mit: Silvana Mangano, Terence Stamp, Massimo Girotti
Vorführung im Filmmuseum Düsseldorf
Post coitum omnis animal triste
Der Film porträtiert eine Mailänder Familie; sie wird durch den überraschenden Besuch eines Fremden durcheinander gewürfelt. Als raffiniert himmlischer Verführer, jung und attraktiv, geht er nacheinander mit jedem Mitglied des Hauses eine sexuelle Beziehung ein. Nachdem er allen eine Offenbarung beschert hat, verlässt er wieder das Haus; zurück bleiben Seelenleere und Gemütschaos, die Raum für Veränderungen bieten.
Offizieller Filmtrailer (OmEngl.U)
Polygamie, Kunst, Depression + Eremitentum
Die Mutter flüchtet sich in Sex mit jüngeren Männern. Der Sohn stürzt sich in die Beschäftigung mit Kunst. Die Tochter verfällt einer Depression, und der Vater wendet sich von der Gesellschaft ab, indem er allein in die Wüste geht – ein exemplarisches Motiv im italienischen Kino, insbesondere bei Michelangelo Antonioni. Das Dienstmädchen des Hauses kehrt zu ihrer proletarischen Herkunft zurück. Diese bürgerliche Familie ist zerfallen – das Theorem im Sinne eines Lehrsatzes, der Muster fürs Leben und die Liebe vorgibt, funktioniert nicht mehr.
Doch im Titel steckt gleichzeitig eine Vieldeutigkeit, die der Regisseur betont: „Theorem“ meint auch eine Form von Spektakel oder Eingebung. Pasolini spielt mit diesen Konnotationen in sowohl schwarzweißen als auch farbigen Bildern seines konzentriert inszenierten Werks. Es ist einerseits eine essayistische Analyse mit handgefilmten Bildern, andererseits ein streng durchkomponierter Film, der virtuos und vielschichtig erzählt wird.
Visuelles puzzle ohne Lösung
Besonders interessant ist die Besetzung der Hauptrolle des geheimnisvollen Fremden mit Terence Stamp; seine physische Präsenz und Ausstrahlung steht paradigmatisch für etwas Überirdisches. Diese Figur wird ganz bewusst vieldeutig gezeichnet – sowohl mit göttlichen als auch diabolischen Zügen. Er kann als Gott, Erlöser oder auch Teufel aufgefasst werden; die Wahrheit liegt vermutlich dazwischen.
Hintergrund
Lesen Sie hier Besprechung der Ausstellung "Pasolini Roma" – exzellente Retrospektive über Leben + Werk von Pier Paolo Pasolini im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier eine Rezension des Films "La Grande Bellezza" von Paolo Sorrentino über das Rom von Pasolini + Fellini, prämiert mit Auslands-Oscar + Europäischem Filmpreis 2014
und hier einen Beitrag über den Film "Mord in Pacot – Meurtre à Pacot" - Post-Erdbeben-Drama in Haiti mit Motiven aus Pasolinis "Teorema" von Raoul Peck.
Offen gegenüber allen Neigungen
Doch lässt sich der Film ausschließlich als Abgesang auf das Bürgertum begreifen – was gut zur Epoche der 1968er-Bewegungen und der sexuellen Emanzipation zu passen scheint? Oder bezieht sich Pasolinis Werk, das sein deutscher Verleih mit dem Untertitel „Geometrie der Liebe“ versah, vielmehr auf wirre Liebe und Sexualität, die frei von Gesetzen und Vorschriften funktioniert? Das erotische Spiel, das der Gast mit jedem Familienmitglied treibt, entspricht Pasolinis ehrlicher Offenheit gegenüber jedweder sexuellen Neigung und Form, was seinem Gesamtwerk abzulesen ist.
Das Sexuelle als gesellschaftliche Triebfeder lässt eben keine Theoreme im Sinne von Normen, Regeln und Konventionen zu – trotz aller Jahrhunderte alten Doppelmoral. Auch in diesem Sinne ist „Teorema“ ein zeitloser Klassiker und vielleicht, wie der berühmte Filmkritiker Roger Ebert einmal betonte, Pasolinis prägnantestes Werk.
Ein Gastbeitrag von Thomas Ochs, Filmmuseum Düsseldorf