Erstmals zeigt die Neue Nationalgalerie eine Einzelausstellung eines Israeli; es ist seine erste große Retrospektive im Ausland. Das Spätwerk von Moshe Gershuni wird unter dem Titel „No Father No Mother“ als Kunst eines wurzellosen Waisenkindes inszeniert, das sich geistige Väter aus Europa aneignen muss. Zu sehen ist jedoch eher eine Auseinandersetzung mit der übermächtigen jüdischen Tradition und ihren aktuellen politischen Folgen.
Info
Moshe Gershuni -
No Father No Mother
13.09.2014 - 31.12.2014
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 20 Uhr,
am Wochenende ab 11 Uhr
in der Neuen Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50, Berlin
Katalog 45 €
Homosexualität + Holocaust
Als Kritiker der Gesellschaft verarbeitete er künstlerisch seine Homosexualität und den Umgang mit ihr; auf der Venedig-Biennale 1980 malte er das Trauma des Holocaust mit Händen und Füßen in blutroter Farbe. Zugleich ist er auch Kritiker der jüdischen Tradition und ihrer alttestamentarischen Wurzeln; vor allem dieser Aspekt wird in der Ausstellung deutlich.
Interview mit Direktor Udo Kittelmann + Impressionen der Ausstellung
Hintern + Kopf sind gleich wichtig
Große Bögen in leuchtenden Farben bestimmen die Auswahl von Werken aus den Jahren 1979 bis 2011. Ende der 1970er Jahre wandte sich Gershuni von Konzeptkunst ab. Er warf sich buchstäblich in eine sehr körperliche Form der Malerei, in der nach seinen Worten „der Hintern ebenso wichtig ist wie der Kopf“: Er verteilte Farbe auf dem Boden und wälzte sich in ihr. Doch diese unmittelbare, animalische Farbspritzerei verbindet sich mit einem sehr subtilem Gebrauch von Zeichen.
Seine Malweise erinnert an den Abstrakten Expressionismus von Cy Twombly: gestische Farbigkeit auf großformatigen Bildern, kombiniert mit fein ziselierten grafischen Spielereien auf dunklem oder hellem Grund. Gershunis Symbolik ist provokativ: Hakenkreuze, Halbmonde und verschiedene Sterne bilden wilde Konstellationen, die der Künstler mit Auszügen aus biblischen Psalmen versieht.
Davidstern + Halbmond + Swastika
Die aufregenden, lebendigen Bilder irritieren; sie spotten, sprechen und schreien. Hier und da erscheint die Verbindung des Expressiven und ikonischer Zeichen zwar etwas plump; zumal die Ausstellung wenig Hintergrundinformationen liefert. Doch sie wird von einigen starken Werken getragen; etwa den „Jerusalemer Nächten“ (1985), in denen der Davidstern auf die muslimische Mondsichel und das Hakenkreuz trifft.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "R.B. Kitaj (1932 – 2007): Obsessionen" - Retrospektive des jüdischen Künstlers in Berlin + Hamburg
und hier eine Rezension der Jubiläums-Ausstellung “Heimatkunde – 30 Künstler blicken auf Deutschland” im Jüdischen Museum Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Turner – Monet – Twombly: Later Paintings" mit Werken von Cy Twombly in der Staatsgalerie Stuttgart.
Wo ist mein Soldat?
Auch der von Kittelmann gewählte Titel lenkt vom Fokus der Ausstellung eher ab: Der Künstler steht nicht als armes Waisenkind ohne Kontext da, sondern selbstbewusst auf dem Fundament der Tradition – und führt die Unmöglichkeit vor, sie mit heutiger Realität zu versöhnen. So etwa, wenn er „Isaak!“ mit der Stimme seines Vaters Abraham ruft; er sollte laut Genesis auf Geheiß Gottes seinen Sohn opfern.
Die in Gelbtönen gehaltenen Isaak-Bilder ergänzen die Serie „Soldiers“, in der heftige rotgelbe Farbfelder mit düsterer schwarzer Symbolik durchsetzt sind. Kommentiert werden sie mit skurrilen, kindlichen Aufrufen und Ansprachen: „Hey Soldaten, ich komme! Toller Soldat! Wo ist mein Soldat? Alle Soldaten marschieren auf dem linken Fuß.“ Den Kontrapunkt dazu bildet ein Bibelzitat: „[Der Herr] ist der Fels. Vollkommen ist, was er tut, und alle seine Werke sind recht.“
Das will Gershuni nicht hinnehmen: Er wehrt sich gegen die Forderung an Abraham, seinen Sohn zu opfern. Doch er verwirft auch nicht die Tradition, sondern identifiziert sich mit ihr. Mit seinen Farberuptionen zeigt er diese inneren Brüche und Widersprüche; das verleiht dem hier gezeigten Werk seine Bedeutung.