R. B. Kitaj ist als großer Einzelgänger eine schillernde Künstler-Persönlichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; sein vielschichtiges Werk vereint Elemente des Surrealismus mit der Pop Art. Mit zahlreichen Zitaten aus der Kunstgeschichte – von Renaissance-Malern wie Giotto und Fra Angelico bis zu Manet, Cézanne und Matisse – behauptet Kitaj eine kraftvoll malerische Position der Postmoderne.
Info
R.B. Kitaj (1932 - 2007) Obsessionen
29.09.2012 – 27.01.2013
täglich 10 bis 20 Uhr, montags bis 22 Uhr im Jüdischen Museum Berlin, Lindenstraße 9-14
Katalog 34 €
19.07.2013 – 27.10.2013
täglich außer montags 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr in der Kunsthalle Hamburg, Glockengießerwall 2
Nachname von Adoptiv-Vater
Ronald Brooks kam 1932 bei Cleveland, Ohio, in einer jüdischen Familie zur Welt und nahm später den Nachnamen Kitaj seines Adoptiv-Vaters an. Obwohl nicht religiös erzogen, wurde das Judentum ab den frühen 1970er Jahren zu seinem Lebens-Thema, nachdem Hannah Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess in Jerusalem erschienen war.
Interview mit Projekt-Leiterin Margret Kampmeyer + Impressionen der Ausstellung
Einzigartige Fragestellung nach jüdischer Kunst
Kitajs Interesse galt den Bedingungen des «Jüdischseins» – weniger in religiöser, als vielmehr in kultureller und sozialer Hinsicht: angesichts eines flagranten Antisemitismus‘ in der Gesellschaft und des schwierigen Verhältnisses des Judentums zur bildenden Kunst, das auf das mosaische Bilder-Verbot in den Zehn Geboten zurückgeht.
Indem er sich eingehend mit jüdischen Theoretikern und Schriftstellern wie Sigmund Freud, Walter Benjamin und Franz Kafka beschäftigte, versuchte Kitaj sehr persönlich und emotional zu ergründen, was jüdische Kunst sein könnte und wie die moderne condition humaine mit dem Judentum zu vereinbaren wäre. Diese Fragestellung mache ihn einzigartig in der Kunstwelt, stellt die Programm-Direktorin des JMB Cilly Kugelmann heraus.
Vorbild Robert Rauschenberg
Kitaj studierte 1959 bis 1961 am Royal College of Art in London zusammen mit David Hockney, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Sein künstlerisches Vorbild war damals besonders der Pop-Art-Künstler Robert Rauschenberg, dessen neodadaistische Kombination von Malerei und Collagen ihn begeisterte; Kitaj erweiterte diese Technik um den plakativen Einsatz von Farben. Später prägte er den Begriff «School of London» für die Hinwendung zu figurativer Darstellung in Großbritannien bei Malern wie Francis Bacon, Lucian Freud und ihm selbst.
Sein Frühwerk besteht vor allem aus detailreichen Rätsel-Bildern voller intellektueller Bezüge und Anspielungen. Diese großformatigen Leinwände spiegeln Kitajs Lust am Spiel mit Assoziationen wider; zugleich ähnelt seine künstlerische Technik auch der Arbeitsweise von ihm verehrter Gelehrter wie dem intellektuellen Flaneur Walter Benjamin.
Oder dem deutschen Kunsthistoriker Aby Warburg, dem Kitaj als Hommage sein Bild «Warburg als Mänade» widmete: Die mythologische Figur der Mänade spielt in Warburgs Werk eine herausragende Rolle. Zu sehen ist ein exaltiert tanzendes Zwitter-Wesen mit einem übermalten Porträt-Foto als Gesicht; ergänzt mit einem Text-Fragment aus der Sekundär-Literatur über Warburg, das Kitaj handschriftlich exzerpiert und aufgeklebt hat.
Geistiger Vertreter der jüdischen Diaspora
Warburg gilt als ein Begründer der modernen vergleichenden Bild-Wissenschaft. Mit seiner ebenso innovativen wie riskanten Methode, kulturelle Zusammenhänge über alle Epochen- und Genre-Grenzen hinweg ikonografisch zu erforschen, verband Kitaj eine Geistesverwandtschaft.
Wie Warburg, Benjamin oder der Rabbiner Albert H. Friedlander verstand sich der Maler Kitaj als Vertreter der jüdischen Diaspora – nicht nur in räumlicher, sondern vor allem in geistiger Hinsicht. Die jüdische Kunst, die er schaffen wollte, war ausdrücklich eine diasporische Kunst, die er mit dem jüdischen Leben in der Fremde gleichsetzte.
Zwei «Manifeste des Diasporismus»
Deren Ziele formulierte er im Sinne der Avantgarden der klassischen Moderne in zwei «Manifesten des Diasporismus». Eine solche Kunst, schrieb Kitaj, sei «eine ziemliche Blasphemie gegen die Logik der vorherrschenden Kunstlehre – weil das Leben in der Diaspora oft zusammenhanglos und voller Spannungen ist; ketzerischer Einspruch ist ihr Lebenselixier».
Hintergrund
Lesen Sie hier einen Beitrag über die Ausstellung "Die entfesselte Antike" über Aby Warburg + die Geburt der Pathosformel im Wallraf-Richartz-Museum, Köln
und hier eine Rezension der Jubiläums-Ausstellung "Heimatkunde – 30 Künstler blicken auf Deutschland" im Jüdischen Museum Berlin
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Radical Jewish Culture" über New Yorks Knitting-Factory-Szene, ebenfalls im Jüdischen Museum.
O-Töne von Kitaj im Audio-Guide
In den Ausstellungs-Räumen finden sich auf 20 Bistro-Tischen – eine Referenz an die von Kitaj geschätzte Kaffeehaus-Kultur – Hintergrund-Informationen zur Bedeutung wichtiger Werke. Zudem enthält der Audio-Guide erläuternde O-Töne von Kitaj selbst: Er hat seine Arbeiten stets ausgiebig kommentiert.
Das ermöglicht dem Besucher, bei der Betrachtung von Kitajs Werk sich mit ihm auf einen künstlerischen Pfad zu begeben, der Diaspora nicht nur als jüdisches Phänomen diskutiert, sondern als Grundbedingung unseres heutigen Lebens: Fragen des Exils spielen eine immer größere Rolle – seien sie nun religiös oder kulturell, ethnisch oder politisch bedingt.