Berlin

Baumeister der Revolution: Sowjetische Kunst und Architektur 1915 – 1935

Richard Pare: Bäckerei - Innenansicht, 1999; Bauingenieur: Georgi Marsakow, 1931. Foto: © Richard Pare und Kicken Berlin
So schön war sozialistischer Städtebau vor Stalin: Der Martin-Gropius-Bau zeigt Meisterwerke konstruktivistischer Architektur in der Sowjetunion der 1920er Jahre. Beziehungsweise was davon übrig blieb – etliche Gebäude haben sehr gelitten.

500 Sowjet-Fabriken vom US-Architekten

 

Dieser Funkturm war das erste technische Großbauwerk, das nach der Revolution entstand; zuvor blieben alle Entwürfe auf dem Papier. Mit Lenins «Neuer ökonomischer Politik», die Privat-Initiative gestattete, und der forcierten Industrialisierung des Landes stieg jedoch die Bau-Aktivität sprunghaft an. Daran beteiligten sich auch namhafte ausländische Architekten – mit und ohne Sympathien für die Bolschewiki.

 

Allein das Moskauer Büro des US-Architekten Albert Kahn, der mit rund 1000 Gebäuden halb Detroit hochzog, plante zwischen 1929 und 1932 mehr als 500 Fabriken für sowjetische Industrie-Städte. Le Corbusier entwarf den Zentrosojus-Komplex für 2000 Bürokräfte mitten in Moskau. Erich Mendelsohn, Baumeister des Einstein-Turms in Potsdam und der heutigen Schaubühne in Berlin, lieferte Pläne für die Textil-Fabrik «Rotes Banner» in Leningrad. Von der Ausführung distanzierte er sich aber: Material und Technik erschienen ihm minderwertig.

 

Moskauer Vorbild für Le Corbusier

 

Stahl war knapp und wurde oft durch Holz ersetzt. Mit kargen Mitteln gelangen den Architekten bahnbrechende Lösungen, betont Richard Pare: etwa beim Narkomfin-Gebäude von 1930 für Beschäftigte des Volkskommissariats für Finanzen. Moisej Ginsburg und Ignati Milinis gestalteten diese Gemeinschafts-Wohnanlage, indem sie minutiös die Bedürfnisse und Wege der Bewohner berücksichtigten.

 

Ein Musterbeispiel konstruktivistischer Bauweise, das Le Corbusier als Vorbild für seine Unités d’habitation diente – auch wenn das teilweise umgebaute und schlecht erhaltene Narkomfin heute ebenso unspektakulär aussieht wie Corbusiers Wohn-Maschinen. Immer noch beeindruckend wirken hingegen die Bauten von Konstantin Melnikow, dem großen Einzelgänger unter den russischen Architekten.

 

Parkhaus mit Kühlergrill und Schwung-Rad

 

Hintergrund

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "The Ruins of Detroit" über den Verfall moderner Industrie-Architektur von Albert Kahn im Kühlhaus, Berlin

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Stiller Widerstand" über Fotografien des Russischen Piktorialismus 1900 - 1930 im Martin-Gropius-Bau, Berlin

 

und hier einen kultiversum-Beitrag über die Ausstellung "Archäologie einer Zeit - Sozialistische Moderne" mit Architektur-Fotografie von Roman Bezjak im Sprengel-Museum, Hannover.

Ab 1927 errichtete er in Moskau sein Privathaus aus zwei ineinander verschränkten Zylindern. Der hintere wird durchgängig mit vier Reihen sechseckiger Fenster erhellt, wobei Melnikow nur herkömmliche Ziegel verwendete: eine einzigartige Konstruktion.

 

Ähnlich originell ist sein Entwurf für das Gosplan-Parkhaus in der Hauptstadt. Die weiße Kannelierung des Verwaltungs-Blocks erinnert an einen Kühlergrill, ein riesiges Rund-Fenster an ein Schwung-Rad – in Beton gegossene Dynamik.

 

Die verlor die sowjetische Architektur in den 1930er Jahren: Anleihen bei traditionellen Bauformen wie Säulen und Tor-Bögen sollten den Triumph der Sowjet-Macht ausdrücken. Wobei die Erinnerung an ihre avantgardistischen Anfänge nie ganz verloren ging.

 

In ganz Osteuropa findet man etwa bei Sanatorien oder Freizeit-Zentren aus den 1970/80er Jahren ungewöhnliche Konstruktionen mit Anklängen an die Experimente der 1920er. Sie wären ebenfalls eine große Überblicks-Ausstellung wert, bevor sie der Modernisierungs-Wut von Investoren zum Opfer fallen.