
An dieser Biennale scheiden sich die Geister. Auf der einen Seite stehen Kritiker, welche die 55. Internationale Kunstausstellung von Venedig konservativ finden, zu sehr der akademischen Rückschau verpflichtet anstelle des nötigen Anspruchs, die neueste Kunst zu präsentieren. Andere Stimmen sehen die Schau positiv, weil sie Außenseiter ins Zentrum rückt und sich der Allmacht des Kunstmarkts widersetzt.
Info
55. Biennale - Der enzyklopädische Palast
01.06.2013 – 24.11.2013
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr
in den Giardini + Arsenale, Venedig
Der Enzyklopädische Palast
Gionis Inspiration für seine Biennale war „Der Enzyklopädische Palast“ seines von Italien in die USA ausgewanderten Landsmanns Marino Auriti. Im Eingang zum Arsenale, wo der erste Teil der Ausstellung gezeigt wird, steht das monumentale Modell eines sich babylonisch nach oben verjüngenden Turms, in dem alles Wissen dieser Welt seinen Platz finden sollte. Der Autodidakt hatte das Architekturmodell in seiner Garage angefertigt und 1955 zum Patent angemeldet. Wirklichkeit wurde die grenzenlose Utopie jedoch nie. Erst in Gionis Ausstellung beginnt die Idee nun Formen anzunehmen.
Impression der Biennale: der Beitrag des Isländers Ragnar Kjartansson
Vielerorts surrealistische. Der türkische Künstlerliterat Yüksel Arslan gehörte etwa zum Kreis um André Breton in den 1960er Jahren in Paris. Sein Universalismus kulminiert in sogenannten „Artures“, komplexen Comic-Palimpsesten aus Texten, Bildern und wissenschaftlichen Verweisen. Eine ähnliche, wenn auch viel drastischere Bildsprache bemüht auch Evgenij Kozlov mit seinem „Leningrad Album“ oder die umfangreiche Graphic Novel „The Book of Genesis“ von Robert Crump. Seine schrille Interpretation des 1. Buch Mose verdichtet geschriebenes Wort und gezeichnetes Bild auf einer Ebene, die der vergleichsweise reduzierten Information biblischen Ursprungs die Überfülle kreativer Exegese gegenüberstellt.
Visuelle Verlockung
Rudolf Steiners Philosophie mag nicht mehr zeitgemäß und vor allem inhaltlich überholt sein. Seine Kreidezeichnungen auf Schiefertafeln von 1923 haben jedoch nichts von ihrer visuellen Verlockung verloren. Sie erscheinen als Bilderrätsel und Erklärungsmodelle gleichermaßen, nehmen eine Ästhetik vorweg, die vor allem Joseph Beuys dann später zu einem Markenzeichen machten. Tino Sehgals Performanden entfalten vor diesen Folien eine verstörende Atmosphäre zwischen eurhythmischer Veranstaltung und Stippvisite in der Nervenklinik.
Die Materialflut solcher Grenzbereiche zur Esoterik füllen viele Hallen. Paradigmatisch sind etwa Frieda Harris’ Illustration zu einem Tarotkartenblatt, das der britische Okkultist Aleister Crowley 1938 in Auftrag gegeben hat. Sie entwarf eine scheinbar universell gültige Bildsprache des halbseiden Mysteriösen und dekorativ Absurden, das bis heute in der subkulturellen Ästhetik von Heavy-Metal, Emo oder Gothic nachklingt.