
Ausstellungen können sich ihren Rahmen meist nicht aussuchen: Die Räume waren vorher da. Ihnen muss sich das Konzept anpassen; selten reicht das Budget aus, um ein ganzes Gebäude umzugestalten. Dieses rare Privileg genießt die Gedenk-Schau zum 200. Geburtstag von Georg Büchner (1813-1837): Für sie wurde eigens ein Flügel im Darmstadtium ausgebaut.
Info
Georg Büchner: Revolutionär mit Feder und Skalpell
13.10.2013 - 16.02.2014
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr,
donnerstags bis 21 Uhr
im Darmstadtium, Schlossgraben 1, Darmstadt
Katalog 58 €
Jeder Meter symbolisch aufgeladen
Wie auch die vom Institut Mathildenhöhe erdachte Ausstellung zu seinen Ehren: ein verwinkelter Parcours voller Gänge, Treppen und Kabinette, so unübersehbar und überraschend wie das Leben selbst – wobei jeder Quadratmeter mit Bedacht gestaltet und symbolisch stark aufgeladen ist.
Interview mit Kurator Ralf Beil + Impressionen der Ausstellung
Hyperaktives Multitalent
Enge Passagen und Kammern stehen für Unterdrückung und Kleingeisterei im Biedermeier-Deutschland, eine Aussichts-Plattform für die Freiheits-Erfahrung seiner Studienzeit in Straßburg, ein Marktplatz mit Guillotine für die Blutbäder der Revolutionen von und nach 1789, und ein Aufstieg über terrassenartig ansteigende Podeste für Büchners Erkenntnisfortschritte in Medizin und Philosophie – der zu seinem rekonstruierten Züricher Sterbezimmer führt.
Der Lebensweg zum frühen Ende – Büchner starb an Typhus – mag zeitlich kurz sein, inhaltlich ist er randvoll angefüllt. Hauptanliegen der Schau ist, den Schriftsteller als hyperaktives Multitalent vorzustellen: mit breit gefächerten Interessen an Geschichte, Kunst, Naturwissenschaften und Zeitgeschehen, die sich in vielfältigen Aktivitäten niederschlugen. Um seine Dissertation über das „Nervensystem der Barbe“ zu veranschaulichen, wird sogar in einem Kurzfilm ein Fisch mit historischem Besteck seziert.
Gesamtwerk passt in Taschenbuch
Für solche Extravaganzen ist ausreichend Platz, weil Büchners Werk so schmal ist: drei Theaterstücke „Leonce und Lena“, „Dantons Tod“ und „Woyzeck“, die Erzählung „Lenz“ und das achtseitige Pamphlet „Der hessische Landbote“ – das war’s. Selbst wenn man seine Dissertation und Übersetzungen von zwei Dramen Victor Hugos hinzuzählt, füllt alles nur ein Taschenbuch. Da braucht man sich nicht mit Folianten aufhalten, sondern hat Spielraum für anderes.
Den nutzt die Ausstellung glänzend, indem sie die Leitfrage nach Bedeutung aufwirft: Wie konnte ein 23-Jähriger mit einer Handvoll Schriften in die Weltliteratur eingehen? Was war an seinem Denken und Formulieren so zeitlos gültig, dass nach ihm der wichtigste deutsche Literaturpreis benannt wurde? Und warum werden seine Dramen immer noch gespielt, während seine Vormärz-Kollegen außerhalb von Germanistik-Seminaren fast vergessen sind?
Wüste Sahara in Darmstädter Köpfen
Zur Beantwortung entfaltet die Schau, am Leitfaden von Büchners Biographie entlang, das Panorama einer ganzen Epoche. Mit wenig wertvollen, aber sehr aussagekräftigen Exponaten: Grafiken zeigen die akkurate Tristesse seiner Heimatstadt Darmstadt, die er als „Wüste Sahara in den Köpfen“ verhöhnte. Bilder zweitrangiger Maler führen vor, was der Heranwachsende im lokalen Museum gesehen hat; ebenso Fossilien aus der nahen Grube Messel, etwa Dinosaurier-Zähne.
Anatomie-Modelle repräsentieren sein Medizin-Studium: drastische Einblicke in das hinfällige Fleisch, die seine Zweifel am harmonieseligen Weltbild von Kirche und Obrigkeit nährten. Dann die Papierflut der damaligen Publizistik: Streitschriften pro und contra Napoleon und Restauration, gallige Karikaturen von Honoré Daumier, dauernd von der Zensur verfolgt. Und, diskret verhängt, pikante Erotica, die jeder Prüderie spottet.
Ernüchterung + Erbarmen
So lässt sich Büchners éducation sentimentale et intellectuelle nachvollziehen: das Biedermeier nicht als Butzenscheiben-Idylle, sondern als Zeit von Frustration und fiebrigem Sehnen nach ganz Anderem. In der ein junger Heißsporn die Gabe hat, alles zusammenzudenken und so geistreich wie messerscharf aufzuschreiben: Erwartung der Revolution und Ahnung ihres Scheiterns, Ernüchterung über die Menschen als elende Kreaturen und Erbarmen mit ihnen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Napoleon und Europa – Traum und Trauma" - in der Bundeskunsthalle, Bonn
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "„Daumier ist ungeheuer!“" über sein Gesamtwerk im Max Liebermann Haus, Berlin
und hier einen Bericht über den Film "Les Misérables" - opulente Verfilmung des Musicals nach Victor Hugo von Tom Hooper
und hier eine kultiversum-Besprechung der Ausstellung "Kleist: Krise und Experiment" - im Ephraim-Palais, Berlin
Psychogramm für die Gegenwart
Auf mehreren Projektions-Schirmen werden Büchners Texte nachgeschrieben, daneben simultan klassische Stellen eingeblendet, die er variierte: Er war bibelfest und nutzte das eifrig. Was seinen Worten alttestamentarische Wucht verlieh und ihre fortdauernde Wirkung erklärt: Alle Schriftkundigen sind Kinder des Buchs der Bücher.
Alle Exponate zusammen ergeben ein Psychogramm, das verständlich macht, warum Büchner der Gegenwart noch so nah steht. Er wuchs in postrevolutionären Zeiten auf, die am Kater ihrer Enttäuschungen litten. Er sah schreiendes Unrecht, das als unverrückbar hingenommen wurde. Er erhoffte weder Erlösung noch schlagartige Besserung – und dennoch begehrte er auf. Hundert Jahre später hätte man ihn vermutlich zu den Existentialisten gezählt.
Vergeblichkeit des Sisyphos
Sie haben wortreich alle Motive ausformuliert, die in seinem Werk angelegt sind. Vor allem das der Vergeblichkeit, wie es Sisyphos ausagiert: den Stein hinaufwuchten, auch wenn er wieder hinunterrollt. Viele Zeitgenossen teilen Büchners Unbehagen, doch seine Risiken wollen sie nicht eingehen; sie begnügen sich mit dem Bestehenden. Büchners Schriften erinnern sie daran, dass mehr möglich wäre.