
Alle 14 bisherigen documenta-Ausstellungen, so verschieden sie waren, haben eines gemeinsam: Das Fridericianum war stets das Zentrum der Mega-Schau. In dem 1779 eröffneten Bau, damals der zweite rein klassizistische in Deutschland, präsentiert der jeweilige künstlerische Leiter traditionell sein Hauptthema, das an anderen Standorten erweitert und ergänzt wird. Hier startet gewöhnlich jeder documenta-Besuch – und viele enden auch hier.
Info
documenta 14
Teil 1:
08.04.2017 - 16.07.2017
täglich außer montags
11 bis 21 Uhr, donnerstags bis 23 Uhr
an 47 Standorten in Athen
Teil 2:
10.06.2017 - 17.09.2017
täglich 10 bis 20 Uhr
an 35 Standorten in Kassel
Katalog ("Daybook") 25 €,
Essayband ("Reader") 35 €
Was soll das?
Allerdings hat das Museum bereits eine ansehnliche Sammlung zusammengetragen: vorwiegend Werke griechischer Künstler seit etwa 1970, mit ein paar highlights von berühmten Ausländern. Dieses EMST-Depot ließ Szymczyk nach Kassel verfrachten. So weit, so verständlich: Das Fridericianum dient als temporäres griechisches Museum für Gegenwartskunst. Das wirft jedoch eine schwierige Frage auf: Was soll das?
documenta 14: Impressionen der Ausstellung im Fridericianum
Werke aus 50 Jahren als dernier cri
Dass Museen ihre ständige Kollektion en bloc oder in Teilen auf Reisen schicken, ist nicht ungewöhnlich; vor allem, wenn sie zeitweise schließen, weil ihre Räume umgebaut oder saniert werden. Dann sorgen Meisterwerke auf tournee weiter für Aufmerksamkeit und Einnahmen. Wie etwa „Die schönsten Franzosen kommen aus New York“ – 150 impressionistische Gemälde aus dem Museum of Modern Art lockten fast 700.000 Schaulustige 2007 in die Berliner Neue Nationalgalerie.
Doch die documenta versteht sich als weltgrößte Ausstellung von Gegenwartskunst – viele Arbeiten entstehen eigens für diesen Anlass und werden erst kurz vor dem Aufbau fertig. Bislang kam noch kein Leiter auf die Idee, den kompletten Bestand eines Museums am Rande der Kunstwelt mit Werken aus 50 Jahren als dernier cri auszubreiten. Dass Szymczyk es wagt, lässt mehrere Interpretationen zu.
Vier Deutungen des Absurden
Erstens eine nationalchauvinistische: Er hält die Kunst in der Wahlheimat seiner Frau für derart überragend, dass sie aller Welt als leuchtendes Vorbild vorgeführt werden soll. Oder eine defätistische: Er findet die globale Kunstproduktion derart schlecht, dass sie von der Kollektion eines x-beliebigen Provinzmuseums übertroffen wird – die des EMST war gerade zur Hand. Oder eine ideologische: Er glaubt, insbesondere griechische Werke spiegelten wichtige Aspekte und Konflikte des Weltgeschehens, die ihn umtreiben. Oder eine lebenspraktische: Szymczyk macht es sich so einfach wie möglich.
Wie dem auch sei: Der Rundgang im Fridericianum bietet, was man von einem nachrangigen Museum für zeitgenössische Kunst erwarten darf – aus einer Region, die nie im Zentrum des modernen Kunstbetriebs stand, deren Künstler aber demonstrieren wollen, wie up to date sie sind. Folglich sind allerlei Variationen à la grecque von Strömungen zu sehen, die zuvor anderswo erfunden und meist besser umgesetzt wurden. In lockerer Folge: Bei ständigen Ausstellungen ist optimale Platznutzung wichtiger als thematischer Zusammenhang.
Strandläufer fotografieren einander
Farbenfroh geht es los: Auf den Boden der Eingangshalle werden quietschbunte Muster projiziert. Damit will Nikos Alexiou das geometrische Mosaik-Muster eines orthodoxen Klosters ins Digital-Zeitalter überführen – praktisch die einzige Arbeit, in dem die Schlüssel-Technologie unserer Epoche eine Rolle spielt. Fast alle übrigen Beiträge bleiben gewohnt analog und bestätigen das Klischee von einer Kultur, die sich um Modernität kaum schert.
Eine Ausnahme findet sich im obersten Stock: Am PC hat Panos Kokkinias ein manipuliertes Foto-Panorama komponiert, wie man es von Andreas Gursky oder Thomas Struth kennt. Auf „Nisyros“ tummeln sich Hunderte von Figuren auf einem unwirtlichen Strand vor Felsklippen. Mangels Attraktionen fotografieren sie sich frenetisch gegenseitig – ein malerisch-sarkastischer Kommentar zum Massentourismus.
Kulturfabrik stapft wie Godzilla durch Athen
Von den wenigen Video-Arbeiten beeindruckt am ehesten die Vierkanal-Projektion „Looking for a Place“ von Nikos Navridis. Dafür stülpte er 1999 Akteuren Gummikappen über den Kopf. Während sie orientierungslos zwischen Ballons umhertappen, blähen sich die Kappen durch ihre Atemluft ebenfalls zu Ballons auf – Menschen mutieren zu Umwelt. Im Video „Walking Building Part 1“ (2004/6) mutiert eine computergenerierte Fabrik. Sie lässt Andreas Angelidakis wie Godzilla durch Athen stapfen, während der übliche Projektentwickler-Größenwahn zu hören ist: von einem Mega-Kulturzentrum, in dem die halbe Stadt Platz finde.
Doch die meisten Exponate bleiben handfest – und häufig ziemlich platt. Wie das von Costas Varotsos: Er ließ Glasplatten mit Nationalfahnen bedrucken und legte sie auf dem Boden aus. Nun darf jedermann darüber stapfen und Nationalismus mit Füßen treten; bis alles zu Scherben zermalen ist.
Fabrik-Schrott droht mit Tinnitus
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der "documenta 14" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2017 in Kassel
und hier eine Besprechung der "dOCUMENTA (13)" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2012 in Kassel
und hier einen Bericht über die "dOCUMENTA (13): Fridericianum" - Rundgang durch den Hauptstandort der Ausstellung 2012 in Kassel.
Derart eigenständig und originell kommen die wenigsten Werke daher. Auch die Einsprengsel internationaler Starkünstler wirken wie dürftige Zweitaufgüsse. Die Libanesin Mona Hatoum nervt mit der monströsen Elektro-Bastelei „Fix it“: In einem Raum voller Fabrik-Schrott geht mal hier, mal dort das Licht an, während ein stechender Summton mit Tinnitus droht. Nebenan bespritzt Bill Viola eine Menschenmenge mit Wasserwerfern: Selten waren seine opulenten Bilder so inhaltsarm.
Raus als begossener Pudel
So verlässt man das Fridericianum, bildlich gesprochen, wie ein begossener Pudel: Der Zweck einer documenta lässt sich kaum drastischer ad absurdum führen als mit dieser uninspirierten Ansammlung zweit- bis drittklassiger Arbeiten, aus denen nur wenige gelungene Beispiele hervorstechen. Sie verströmt nicht einmal Lust an der Provokation; den Agitprop-Ansatz von Adam Szymczyk muss man andernorts suchen.