
Wenn das Fridericianum als Herzstück jeder documenta gilt, dann ist die Neue Galerie aus den 1870er Jahren ihr Laufsteg. Seit der Wiedereröffnung 2011 können auf drei Etagen und 3000 Quadratmeter Fläche Kunstwerke gezeigt werden – sie haben mehr Platz als an jedem anderen Ausstellungs-Ort. Vor der documenta 14 wurde der Riegelbau, sonst Kassels Museum für Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, erstmals komplett ausgeräumt. Das team von Leiter Adam Szymczyk nutzt das weidlich aus: für ein patchwork der Minderheiten.
Info
documenta 14 - Neue Galerie
Teil 1:
08.04.2017 - 16.07.2017
täglich außer montags
11 bis 21 Uhr, donnerstags bis 23 Uhr
an 47 Standorten in Athen
Teil 2:
10.06.2017 - 17.09.2017
täglich 10 bis 20 Uhr
an 35 Standorten in Kassel
Katalog ("Daybook") 25 €,
Essayband ("Reader") 35 €
Oben Nigeria, unten Russland
Am Eingang gegenüber der Kasse stapelt die Nigerianerin Otobong Nkanga schwarze Seifen. Sie werden von fliegenden Händlern für stolze Summen feilgeboten; vor dem Erwerb müssen Käufer einen Kurzvortrag über Ausbeutung in globalen Handelsbeziehungen anhören. Das Untergeschoss ist einer Riesen-Installation der Italiener Yervant Gervanikian und Angela Ricci Lucchi vorbehalten: Sie sammelten 1989/90 in Russland allerlei Aufzeichnungen und verwursten sie zu einer Video-collage auf sechs Kanälen samt meterlanger Aquarell-Rolle.
documenta 14: Impressionen der Ausstellung in der Neuen Galerie
Gegenwart wird souverän ignoriert
Diese beiden Arbeiten zum Auftakt machen schön deutlich, worum es in der Neuen Galerie geht: Agitprop für Anfänger und ausufernde Materialschlachten. Verdichtung, Konzentration aufs Wesentliche oder überzeugend hergestellte Zusammenhänge interessieren Szymczyks Leute nicht: Für sie heiligt der edle Zweck noch die dürftigsten Mittel. Dass die documenta ein Überblick über Gegenwartskunst sein soll, muss ihnen dabei als lästige Vorgabe lokaler Banausen vorkommen: Sie türmen auf, was ihr Weltbild illustriert – egal, woher es kommt oder von wann es stammt.
Ausgewählte ältere Werke wurden auch auf früheren Ausstellung gezeigt – angefangen mit der Premiere 1955: Sie breitete avantgarde-Kunst aus, die im Dritten Reich verfemt worden war. Doch noch keine documenta hat ihre Aufgabe, zeitgenössische Kunst zu präsentieren, so souverän ignoriert wie die aktuelle. Beginnend im ersten Raum für „sozio-ökonomische Reflexion“: neben einer Bettlerin-Skulptur von Ernst Barlach hängt eine Almosen-Grafik (1868) von Gustave Courbet und gegenüber zwei kleine Darstellungen aus dem 14./15. Jahrhundert, wie der heilige Antonius der Versuchung des Goldes ausgesetzt ist.
Eine Wand voller Nazi-Größen
Nun gabelt sich der parcours: Links warten bleischwere Trübsal und Jammer, rechts farbenfrohe Frivolitäten. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen – also nach links: flirrend existentialistische Menschenbilder von Pawel Filonow aus Stalins Sowjetunion der 1920/30er Jahre kontrastieren mit Fotos für Pierre Klossowskis schneidende Triebökonomie-Kritik „Die lebende Münze“ von 1970. Stachanows im Liniengewirr treffen nackte Schwarzweiß-Grazien: hermetischer Wandschmuck für das poststrukturalistische Oberseminar.
Das ganz banale Böse kapiert hingegen jeder: Piotr Uklanski aus Polen kachelt eine komplette Wand mit Passbildern von Nazi-Größen zu. Im oberen Stockwerk folgen noch jede Menge Federzeichnungen, Presseartikel und Fotos von einer Hungersnot im Bengalen der 1940er Jahre. Warum gerade diese humanitäre Katastrophe – warum nicht der „Holodomor“, mit dem Stalin 1932/33 die Ukraine aushungerte, oder Biafra Ende der 1960er, oder Äthiopien in den 1980er Jahren?
Von erotischen zu politischen Fantasien
Ebenso beliebig wirkt die Auswahl auf der rechten Seite der bunten Hoffnung. Angefangen mit kindischen transgender-Zoten des Wieners Ashley Hans Scheirl: Unter dem Titel „Golden Shower“, einem Euphemismus für Urin-Sex, lässt er Münzen aus einem Frauenschoß purzeln. Im Video hopst er auf goldenen Pappmaché-Hoden wie auf Gummibällen herum. Die Brücken von erotischen zu politischen Fantasien schlägt die Chilenin Cecilia Vicuña mit naiven Acrylbildern: Neben polymorphen Nixen hängen Porträts linker Idole wie Marx, Lenin, Fidel Castro und Salvador Allende.
Dagegen wirkt Edi Hilas Ölbild „Planting the Trees“ von 1971 geradezu virtuos: Glückliche Albaner forsten ihre Heimat auf – es dürfte das einzige Objekt aus Enver Hodschas Diktatur sein, das es je auf eine documenta geschafft hat. Wenig später wurde Annie Sprinkle aktiv: in den 1970er Jahren als Porno-star, in den 1980ern als Radikal-Aufklärerin. Heute propagiert sie Ökosex – als Liebe zur Natur im Wortsinne. Im ihr gewidmeten Kabinett zeugen Schriften, Fotos und Videos von etwas, das zu dieser Mega-Schau gar nicht passt: Humor.
Institut mit Fördermittel-Garantie
Denn allseitige Weltverbesserung ist eine todernste Sache. Dafür nimmt Maria Eichhorn im Obergeschoss gleich drei Räume in Beschlag. Mit dem neu gegründeten „Rose Valland Institut“ will sie NS-Kunstraub dokumentieren und die Rückgabe von Werken an rechtmäßige Besitzer vorantreiben – eine brillante Idee. Erstens erledigt sich die Herstellung eigener Artefakte: Es genügt, bis zur Decke alte Bücher zu stapeln, die einst später ermordeten Juden gehört haben. Zweitens dürften garantiert Fördermittel üppig fließen: Wer würde sie diesem noblen Ziel verwehren? Drittens wird die Künstlerin als Institutsleiterin zur gefragten Akteurin der holocaust industry. Mal sehen, wann der erste Künstler ein Ministerium ins Leben ruft, um die öffentlichen Angelegenheiten mit überlegenem Sachverstand zu ordnen.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der "documenta 14" - Überblick über die weltgrößte Gegenwartskunst- Ausstellung 2017 in Kassel
und hier ein Porträt der Ökosex-Prophetin Annie Sprinkle mit ihrem Lebenswerk auf der documenta 14
und hier einen Bericht über die Wiedereröffnung der Neuen Galerie in Kassel im November 2011.
Egal, ob + wie es passt
Klingt alles etwas verwirrend? Ist es auch; dabei haben wir Miniaturmalerei für Mogul-Kaiser, schwarzafrikanische Benin-Bronzeköpfe, antike Gandhara-Reliefs und vieles mehr noch gar nicht erwähnt. Als würde ein Rudel Kuratoren alle Fundstücke ausbreiten, die sie schon immer einmal vorführen wollten – und keinen Gedanken darauf verschwenden, ob und wie alles zusammen passt. Mit vielen ließen sich interessante Themen-Ausstellungen bestücken, doch dieses Sammelsurium in der Neuen Galerie wirkt völlig unausgegoren und willkürlich. Als Mahnmal dafür, was die Macher genießen und bis zum Anschlag ausreizen: Narrenfreiheit.