
Picasso zieht immer. Besonders wenn es um die Blaue und Rosa Periode geht, gibt es kein Halten mehr. Die melancholisch-sanftmütigen Gemälde aus den Anfangsjahren des spanischen Wahlparisers entfalten einen überwältigenden Sog. Nur mit Zeitfensterticket schafft man es zur Audienz bei den Werken des jungen Picasso ins Pariser Musée d´Orsay.
Info
Picasso – Bleu et Rose
18.09.2018 - 06.01.2019
täglich außer montags
9.30 bis 18.00 Uhr,
donnerstags bis 21.45 Uhr
im Musée d'Orsay, Paris
französischer Katalog 45 €
Der junge Picasso –
Blaue und Rosa Periode
03.02.2019 - 26.05.2019
täglich 10 bis 18 Uhr,
mittwochs bis 20 Uhr
in der Fondation Beyeler, Baselstrasse 101, Riehen bei Basel
Katalog 68 CHF
Jahrhundertkünstler ganz emotional
Die Pariser Kuratoren versprechen, die Blaue und die Rosa Periode diesmal nicht als getrennte Phasen, sondern als Kontinuum vorzustellen. Das ist sicher keine weltbewegend neue Sicht. Doch sie wird so gründlich wie liebevoll in einer stupenden Werkfülle vermittelt. Für Fans ein Muss, für alle anderen eine erhellende Lektion in Kunstgeschichte: Die Ausstellung zeigt das Jahrhundertgenie von seiner zugänglichsten, emotionalsten Seite.
Die Pariser Metro mit ihren prachtvollen Jugendstileingängen war schon eröffnet, als Pablo Ruiz Picasso 1900 erstmals in der französischen Hauptstadt eintraf. Der in Malaga geborene Künstler war damals 18 Jahre alt und galt bereits als Genie. Seine perfekte Salonmalerei hatte ihn mit einem Riesenschinken auf die Pariser Weltausstellung katapultiert. Dieses frühreife Debüt bleibt bei der aktuellen Werkschau außen vor.
Französisches Feature über die Ausstellung; © Arts in the City
Tristesse + Sentimentalität
Stattdessen werden die ersten Schritte des Egomanen in den Olymp der Kunstgeschichte nachzeichnet. Der abgebildete Zeitraum beginnt 1901. Nicht nach Jahren, sondern nach Monaten wird gemessen. Jeden Kontakt, jeden Ortswechsel, jede Farbtonveränderung zwischen „Bleu et Rose“ haben die Forscher ausgeleuchtet. Komplexe kunsttheoretische Exkurse braucht es dabei nicht, diese Bilder erklären sich selbst.
Wer jemals in melancholische Schieflage geriet, darf sich distanzlos dem Weltschmerz in Picassos Blauer Periode überlassen: Bonjour Tristesse! Auch die Rosa Periode entgeht der Sentimentalität oft nur um Haaresbreite. Am Ende ist man geradezu erleichtert, wenn die ersten rohen Hiebe und Deformationen die allzu eingängige Ästhetik dieser Frühphase zerschlagen.
Vom Bohemien zum Asketen
Dass „Picasso. Bleu et Rose“ ausgerechnet im Musée d´Orsay gastiert, wo vor allem die Kunst des 19. Jahrhunderts zuhause ist, ergibt Sinn. Mit Blick auf die großen Gesten der Salonmalerei um 1900 erschließt sich, aus welchem Nährboden Picassos Frühwerk entstand – und welcher Kraftakt es war, sich daraus zu lösen. Später erklärte der Künstler: „Ich wollte Maler werden und wurde Picasso.“ Das geschah in genau diesen Jahren zwischen 1900 und 1906.
Yeah! Elegant und arrogant posiert der Bohemien auf seinem Selbstbildnis „Yo, Picasso“ (Ich, Picasso) von 1901 mit Glutblick und blütenweißem Hemd. Wenige Monate später erkennt man ihn kaum wieder: Nun präsentiert sich der Maler in gänzlich anderer Rollenidentität: als bleicher, hohlwangiger Asket vor melancholischem Blau.
Eine rasante Genese
Das unverstandene Genie schlägt frierend den Mantelkragen hoch, trotz allem verdammt gutaussehend. Ein weiteres Meilensteinwerk macht die Trinität der Selbstbildnisse komplett. Jetzt gleicht Picassos Gesicht einer archaischen Maske: Der Primitive bin ich. Das ockerfarbene Kolorit signalisiert das Ende der Rosa Periode.
Diese drei berühmten Selbstbildnisse hängen gleich zu Beginn der Schau nebeneinander: Wegmarken einer Selbstfindung und Stationen der rasanten Stilgenese. Um zu verdeutlichen, was dazwischen geschah, haben die Kuratoren zahlreiche Gemälde herangeschafft.
Hagere Bettler, verzweifelte Frauen
Zudem wurde Archivmaterial ausgepackt und tief in die Grafiksammlungen gegriffen: über 350 Exponate sind zu sehen. Die Arbeiten auf Papier machen deutlich, wie wichtig das Experimentierfeld Zeichnung für den frühen Picasso war. Er zeichnete mal naturalistisch, mal expressiv, karikierte seine Freunde, skizzierte Passanten.
Auch als das Blau ab 1901 alle Gemälde durchtränkt, reißt der Strom der Zeichnungen nicht ab: Die hageren Bettler, hilflosen Blinden und verzweifelten Frauen im Knast werden stets mit dem Zeichenstift präzise vorbereitet, bevor sie auf großer Leinwand ins blaue Kolorit treten. Vielleicht wirken viele Werke dieser Periode deshalb so steril und formelhaft. Ihnen fehlt die Unmittelbarkeit und Spontanität.
Freundes-Selbstmord verstört
Aber Picasso ging es mit gerade einmal 20 Jahren eben gleich um die großen, existenziellen Themen. Er misst sich mit El Greco, Vincent van Gogh und Paul Gauguin. Ihnen schaut er auch Kniffe und Tricks ab: etwa die ausdrucksstarke Konturlinie als emotionalen Anker.
Als zentrales Spitzenwerk der Schau ist sogar „La Vie“ aus Ohio angereist. Mit diesem anspruchsvollen und selten verliehenen Großformat zog Picasso im Frühjahr 1903 ein Resümee aus seiner Blauen Periode. Es geht um Liebe, Eros, Mutterschaft und Tod: Links in dem Figurentableau steht der spanische Freund Carlos Casagemas, dessen Liebeskummer-Selbstmord 1901 überhaupt erst den Anlass für Picassos Blautonphase gab.
Anfänge als junger Wilder
Die beiden Maler waren zusammen nach Paris gegangen, hatten sich zuvor in Barcelona ein Atelier geteilt. Der tragische Pistolentod – der Polizeibericht lässt sich im Wandtext nachlesen – setzte eine Zäsur. In einer ganzen Bildserie bettete Picasso den Verstorbenen zuerst in van Goghschen Glutfarben und dann in blauer Trauer ein.
Vor diesem Schlüsselereignis hatte der Maler sich auf seiner ersten großen Soloausstellung bei Vollard in Paris noch als junger Wilder im grellen Farbenrausch gebärdet: Mit Nachtschwärmer– und Halbweltszenen, auf denen grellgeschminkte Prostituierte am Absinth nippen und das Partyvolk die Tanzfläche zum Kochen bringt.