Berlin

Summer of Love: art, fashion, and rock and roll

Victor Moscoso: “Incredible Poetry Reading”, Plakatmotiv (Detail), 1968. Foto: PalaisPopulaire, Berlin
San Francisco im Ausnahmezustand: 1967 strömten Zehntausende von Hippies in die Stadt. Im Nu wurden psychedelische Kunst und Design populär; ihre visuelle Radikalität ist unübertroffen. Das zeigt eine erstklassig bestückte Gedenkschau im PalaisPopulaire.

„Turn on, tune in, drop out!“: Die berühmte Parole von LSD-Papst Timothy Leary, die er am 14. Januar 1967 den rund 40.000 Teilnehmern des „Human Be-In“-Happenings im Golden Gate Park von San Francisco zurief, könnte auch als Motto dieser Ausstellung herhalten. Als Aufruf, sich einzulassen auf diese aberwitzig fantasievolle Bilderwelt, die ein neues Lebensgefühl und eine neue Weltsicht propagierte. Beides wirkt mehr als 50 Jahre später reichlich entrückt, weil es zum großen Teil uneingelöst blieb – bedauerlicherweise.

 

Info

 

Summer of Love: art, fashion, and rock and roll

 

26.06.2019 - 28.10.2019

täglich außer dienstags

11 bis 18 Uhr,

donnerstags bis 21 Uhr

im PalaisPopulaire,
Unter den Linden 5, Berlin

 

Engl. Katalog 47,50 €

 

Weitere Informationen

 

Das PalaisPopulaire, die Kunsthalle der Deutschen Bank, ließ diese Ausstellung komplett vom „Fine Arts Museum of San Francisco“ konzipieren. Kein Wunder, dass sie ausschließlich die Hippie-Bewegung in Kalifornien behandelt; psychedelische Kunst und Musik etwa an der US-Ostküste oder in Großbritannien spielen keine Rolle. Das macht aber nichts: Die etwa 150 Exponate aus dem „Fine Arts Museum“ sind so aussagekräftig, dass sie umfassend die Kultur- und Sozialgeschichte der USA in den 1960er Jahren aufbereiten.

 

LSD-Verteilung + Feminismus

 

Denn die Wurzeln dieser Jugendrevolte reichen bis zum Anfang des Jahrzehnts zurück, wie die Schau deutlich macht. Ende der 1950er Jahre feiert die Subkultur der Beatniks literarische Erfolge, 1962 gründet Ken Kesey die „Merry Pranksters“-Kommune, die bei Happenings LSD verteilt. Ab dem Folgejahr bildet sich in Nevada und Kalifornien eine Psychedelic-Rock-Szene und siedelt sich vor allem in San Francisco an; zugleich publiziert Betty Friedan ihre Streitschrift gegen den „Weiblichkeitswahn“ und löst damit die zweite Welle des Feminismus aus.

Impressionen der Ausstellung


 

Gegen die formierte Gesellschaft

 

1964 eskaliert der Vietnamkrieg. Die US-Regierung schickt Hunderttausende von Wehrpflichtigen dorthin; dagegen protestieren sie mit der öffentlichen Verbrennung ihrer Einberufungsbefehle. Währenddessen radikalisiert sich die Bürgerrechtsbewegung: 1965 wird der schwarze Anführer Malcolm X ermordet, danach die „Black Panther Party“ gegründet. Auch Schwule und Lesben fordern mit Aktionen in San Francisco ihre rechtliche Gleichstellung. In dieser Atmosphäre des Aufbegehrens gegen eine formierte Gesellschaft wird der „Summer of Love“ zum Initiationserlebnis einer ganzen Generation.

 

Nach dem „Human Be-In“-Auftakt strömen wochenlang Zehntausende von Jugendlichen nach San Francisco. Sie kampieren meist auf den Straßen im Stadtteil Haight Ashbury, dessen Infrastruktur bald völlig überlastet ist. In Windeseile entwickelt sich eine neue Konsumkultur – einerseits altruistisch mit Gratis-Speisungen und -Läden für Bedürftige, andererseits kommerziell mit Konzerten und allerlei underground entertainment. Diese Events bringen ästhetisch avancierte und eigenwillige Artefakte hervor: Plattencover, Poster und Lightshows.

 

Plakate als eine Art Selbsterfahrung

 

Plattenhüllen einschlägiger Bands wie Grateful Dead, Quicksilver Messenger Service oder Jefferson Airplane stehen wohl bei jedem Fan dieser Stilrichtung im heimischen Regal. Doch die Plakate für Konzerte oder Lesungen aus dem „Fine Art Museum“ sind wirklich spektakulär: wild wuchernde graphische Gebilde, collagiert aus historischen Vorlagen, Comic-Emblemen und Op-Art-Elementen, oft in schreienden Farbkontrasten. Verschlungen wabernde Buchstaben lassen sich kaum entziffern – mit Absicht. „Das Plakat soll die Leute in eine Art Selbsterfahrung verwickeln“, erklärte 1967 Wes Wilson, der damals Reklame für die legendäre Konzerthalle „The Fillmore“ entwarf.

 

Im Rückblick fällt auf, wie eklektisch die Gestalter vorgehen. Erlaubt ist, was gefällt: Jugendstil-Grazien, Stummfilm-Diven, Surrealismus-Fragmente, aber auch Illustrations-Stiche aus dem 19. Jahrhundert etwa von Gustave Doré. Manches hat inhaltlichen Bezug zum Hippie-Kosmos: etwa Parodien auf Trapper in der US-Frühzeit, als Anspielung auf den Gründungsmythos grenzenloser Freiheit. Oder Darstellungen von Indianern und Gurus; die Besinnung auf Weisheiten der Ureinwohner gehört ebenso dazu wie Sehnsucht nach Spiritualität. Doch die meisten Motive passen weder zum Weltbild noch den beworbenen Bands – sie sind schlicht Hingucker.

 

Ideale im Oktober zu Grabe getragen

 

Ob man sie deshalb als postmodern bezeichnen kann, wie die Schau es tut? Eher nicht; den Designern ging es weniger um raffinierte Spiele mit Zitaten als vielmehr um das, was man Bewusstseinserweiterung nannte. Dabei gelang ihnen mit bescheidenen technischen Mitteln Erstaunliches. Victor Moscoso druckte mit verschiedenen Farben übereinander „animierte“ Plakate; in buntem Flackerlicht sah es so aus, als würden sich die Motive bewegen. Glenn McKay, Joshua White, Bill Ham und andere bauten aus Farbfiltern und Ölprojektoren mit gefärbten Flüssigkeiten Illusionsmaschinen für riesige Lightshows. Eine Installation von Ham ist in der Schau zu erleben; sie hat von ihrem visuellen Reiz nichts eingebüßt.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension des Films "The Substance: Albert Hofmann’s LSD" - ausgezeichnete Doku über die halluzinogene Droge von Martin Witz

 

und hier eine Besprechung des Films "Love & Mercy" – brillantes Biopic über Beach-Boys-Mastermind Brian Wilson und das End-60er-Lebensgefühl an der US-Westküste von Bill Pohland mit John Cusack

 

und hier einen Beitrag über den Film "Inherent Vice – Natürliche Mängel" – fantasievolle Verfilmung des 70er-Jahre-Späthippie-Krimis von Thomas Pynchon durch Paul Thomas Anderson mit Joaquin Phoenix.

 

Der mentale und soziale Ausnahmezustand in San Francisco währte nur einen Sommer: Schon am 6. Oktober wurden bei der Pseudobeerdigung „Death of the Hippie“ die Ideale der Bewegung zu Grabe getragen. Danach sollte die Rebellion in Europa erst richtig losgehen. Wie die kommerzielle Verwertung: Der Hippie-Look wurde weltweit populär. Prächtige Kleider, Blusen und Stiefel mit ausufernd bunten Mustern sind so aufwändig gewebt, gehäkelt und bestickt, dass man sich fragt, ob diese freaky haute couture je getragen worden ist. Zumindest eine Handtasche mit Seidenstickereien und Glasperlen für Janis Joplin hat die Sängerin tatsächlich benutzt.

 

Ohne Hippies kein Smartphone

 

Diese verspielte Optik war wenige Jahre später ebenso passé wie die Hippie-Botschaft von „Love, peace and happiness“. Ihr langlebigstes Vermächtnis steckt aber in einem recht unscheinbaren Exponat, einem Buch; sein Einband zeigt die blaue Erdkugel im Weltall. Der erste „Whole Earth Catalog“ von 1969 empfahl nachhaltige und umweltschonende Produkte; er wurde ein Bestseller unter Kommunarden und Bastlern der Gegenkultur.

 

Sein Herausgeber Steward Brand soll den Begriff „Personal Computer“ erfunden haben. Inzwischen betrachten Mentalitätshistoriker die Entfesselung von Individualität und Kreativität in San Francisco als eine der Ursachen, warum sich die Computerindustrie in den 1970er Jahren gerade dort ansiedelte. Etwas verkürzt: Ohne Summer of Love gäbe es weder Google noch Smartphones.