
Nichts ist älter als die Zeitung von gestern: Was man gedruckten Nachrichten nachsagt, scheint auch für das grafische Werk von Horst Janssen (1929-1995) zu gelten. In den 1970/80er Jahren war er ein populärer Starkünstler der alten Bundesrepublik; seine überbordend filigranen Illustrationen für „Die Zeit“ kannte ein Millionenpublikum.
Info
Lebenskleckse – Todeszeichen.
Horst Janssen zum Neunzigsten
06.12.2019 - 03.05.2020
täglich außer montags
10 bis 18 Uhr
in der Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schlossstraße 70, Berlin
Begleitheft 3 €
Im Alchemie-Labor
Umso verdienstvoller ist die Gedenkausstellung der Sammlung Scharf-Gerstenberg. Das auf Surrealismus und Verwandtes spezialisierte Haus beschränkt sich jedoch auf einen Teilaspekt seines Werks: welche Rolle der Zufall bei seiner Bildfindung und -gestaltung spielte. Diese Schau „führt in das alchemistische Labor des Zeichenmeisters, um zu ergründen, was geschah, bevor jene Werke entstanden, die heute als ‚typisch Janssen‘ gelten“, so Kuratorin Kylliki Zacharias. Ihr Ansatz setzt also voraus, dass die Besucher bereits Vorwissen mitbringen, wie typische Janssen-Bilder aussehen – was ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod etwas gewagt anmutet.
Videotrailer zur Ausstellung; © SMB
Morbide Klecks-Methode
Willkürliches und Zufälliges wird seit langem in der Kunst aufgenommen: Schon Leonardo da Vinci empfahl seinen Kollegen, zur Inspiration schrundige und verwitterte Wandoberflächen zu betrachten, bis sich das Gewirr von Ausbeulungen und Schatten in der Vorstellung zu Gestalten formt. Ende des 18. Jahrhunderts pries der englische Landschaftsmaler Alexander Cozen die anregende Wirkung von „blots“, also Klecksen. Seine Blot-Methode wurde im 19. Jahrhundert sehr beliebt; der romantische Schriftsteller Victor Hugo schuf damit zahlreiche halbabstrakte Tinten- und Tuschebilder, um seine literarischen Werke zu bebildern.
Das Verfahren, absichtslos entstandene Flecken und Kratzspuren in mehr oder weniger figurative Darstellungen zu verwandeln, hat auch Janssen ausgiebig praktiziert. Etliche seiner Arbeiten weisen rund um das eigentliche Motiv allerlei irrlichternde Punkte und Linien auf. Wie eine Art Patina verleihen sie seinen Bildern häufig etwas Morbides. Dadurch passten sie gut zu Krisenbewusstsein und Atomkriegs-Angst im damaligen Westdeutschland, doch in der Spaßgesellschaft der 1990er Jahre sahen sie plötzlich alt aus.
Ejakulat + Erotomanie
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Spiel mit der Meisterschaft" - Werkschau von Horst Janssen im Museum der bildenden Künste, Leipzig.
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Die Geister, die sie riefen ..." über "Lust- und Angstphantasien von Horst Janssen und Johann Heinrich Füssli" im Horst-Janssen-Museum, Oldenburg
und hier eine Besprechung der Ausstellung "Antes: Malerei 1958 - 2010" - große Retrospektive von Horst Antes im Martin-Gropius-Bau, Berlin
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Schwarze Romantik: Von Goya bis Max Ernst" mit Werken von Johann Heinrich Füssli im Städel Museum, Frankfurt am Main.
Die Aquarelle „Zärtlichkeit (Bettina)“ (1974) und „Ohne Titel“ (1977) lassen hingegen aus unregelmäßigen Farbflecken die Silhouetten seiner damaligen Partnerinnen entstehen: Der Erotomane Janssen hat die Reize seiner wechselnden Geliebten oft und unermüdlich aus allen denkbaren Perspektiven festgehalten. Allerdings wirken die rund 120 meist kleinformatigen Exponate eher wie Fingerübungen: Sie lassen den unfassbar detailreichen Grafik-Dschungel seiner Hauptwerke nur erahnen.
Kritzelritter im Laufgitter
Nichts war zu klein, um für Janssen bildwürdig zu sein: Fast schon mikroskopisch hielt er die Oberflächenstrukturen der sichtbaren Welt fest. „Baumanschauung statt Weltanschauung!“ war seine Devise; dabei beschrieb er sein Vorgehen mit kalkuliertem Understatement gern als „Krikel-Krakel“ oder „Geschmier“. Etwa auf einer mit einem Viereck aus Stäben übermalten Fotografie, die ihn auf dem Boden zeichnend zeigt. „Bin kein Raufritter, auch kein Saufritter“, steht daneben handschriftlich zu lesen: „Sondern ein Kritzelritter in seinem Laufgitter“.
Diese Selbststilisierung als herumfuhrwerkender Grafik-Zampano war recht kokett; wohl kein westdeutscher Großkünstler war so handwerklich versiert und bienenfleißig wie Janssen. Das dürfte keine Jubiläumsausstellung unterschlagen: Spätestens in zehn Jahren sollte eine Schau zum 100. Geburtstag alle Facetten seines extrem umfang- und variantenreichen Œuvres gebührend würdigen.