Müncheberg-Trebitz

Idee – Formerlebnis – Gestalt: Edwin Scharff zu Gast bei Seitz

Edwin Scharff: Hockende Frauen, 1949, Bronze, Nachlassgemeinschaft Edwin Scharff. Fotoquelle: Gustav Seitz Museum
Heinrich Mann, Max Liebermann oder Emil Nolde: Edwin Scharff hat sie alle porträtiert. Er zählte zu den gefragtesten Bildhauern der Zwischenkriegszeit, geriet aber später aus dem Blick. Das Gustav Seitz Museum rückt sein Werk wieder ins Rampenlicht – im kontrastreichen Vergleich mit seinem Namensgeber.

Tiefe Furchen graben sich in das Gesicht. Die Augenbrauen unter dem glatten Schädel sind übertrieben hochgezogen, darunter wölben sich schwere Lider: So sieht der Porträtkopf aus, den Edwin Scharff 1924 vom 77-jährigen Max Liebermann modelliert. Da ist Scharff (1887-1955) seit einem Jahr Professor der Berliner Kunsthochschule, als er wesentliche Charakterzüge des berühmten Künstlerkollegen in Bronze festhält.

 

Info

 

Idee – Formerlebnis – Gestalt:
Edwin Scharff zu Gast bei Seitz

 

03.09.2023 - 17.03.2024

 

freitags bis sonntags 11 bis 17 Uhr

im Gustav-Seitz-Museum, Platz der Jugend 3a, Müncheberg-Trebnitz

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Einerseits die Würde des berühmten Impressionisten und Akademie-Präsidenten, damals eine unangefochtene Autorität in der Kunstwelt. Andererseits die kreative Unruhe des geistreichen, bisweilen schnoddrigen Berliners. Schließlich schwingt in diesem Antlitz etwas von der Müdigkeit eines Menschen mit, der in seinem langen Leben viel gesehen und verarbeitet hat.

 

Werkschau mit einem Dutzend Plastiken

 

Die Liebermann-Büste ist eine von rund einem Dutzend figürlicher Plastiken, die zurzeit im Gustav Seitz Museum in Müncheberg-Trebnitz, rund 60 Kilometer östlich von Berlin, zu sehen sind. Angereichert um Zeichnungen, Gemälde, Lithografien und Radierungen beleuchtet die Werkschau unterschiedliche Facetten von Edwin Scharff. Er zählt neben Ernst Barlach, Wilhelm Lehmbruck, Käthe Kollwitz oder Georg Kolbe zu den bedeutenden deutschen Bildhauern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Aufnahme von 1927: Edwin Scharff modelliert eine Büste seiner Frau Helene Ritscher


 

Männer im Boot in Neu-Ulm + Hamburg

 

Seine große Zeit hatte Scharff in den 1920er Jahren. Aber nach einer wechselvollen Laufbahn hat er bis zu seinem Tod Arbeiten von großer Intensität geschaffen. Heutzutage werden seine Skulpturen allerdings nur noch selten in Ausstellungen gezeigt – etwa das verlorene und wiedergefundene Bildnis der Schauspielerin Anni Mewes, das 2010 in der Wander-Schau „Entartete Kunst“ zu sehen war.

 

Allein im Edwin Scharff Museum in seiner Geburtsstadt Neu-Ulm kann man ständig eine größere Auswahl seiner Plastiken sehen. Zudem wurde vor dem dortigen Rathaus posthum die monumentale Plastik „Drei Männer im Boot“ aufgestellt; das Trio scheint in einem riskanten Balanceakt mit Stangen durchs Wasser zu staken. Eine kleinere Version befindet sich an der Hamburger Außenalster.

 

Mitglied bei SEMA + MNS

 

Schon als 15-Jähriger ging Scharff nach München zur Ausbildung als Künstler. Nach seinem Abschluss erhielt er ein Reisestipendium für Italien. In Rom beeindruckte ihn vor allem die Sixtinische Kapelle: „Dort sperrte ich in einen Monat lang Maul und Augen auf“, erinnert er sich später. Doch nach seiner Rückkehr hat er Mühe, sich als freier Künstler durchzuschlagen; für ihn sind es „arbeitsreiche, aber böse Jahre“.

 

Zwischenzeitlich schließt er sich der von 1911 bis 1913 bestehenden Künstlergruppe SEMA an, der auch Paul Klee, Egon Schiele oder Max Oppenheimer angehören; sie sieht sich in Konkurrenz zum „Blauen Reiter“. Schließlich wird Scharff 1913 Mitglied der „Münchener Neue Secession“ (MNS) und wendet sich ganz der Bildhauerei zu; im Winter 1912 beginnt er, als Autodidakt zu modellieren. Nach einem einjährigen Paris-Aufenthalt stellen sich, zurück in München, erste Erfolge ein.

 

Entarteter Künstler trotz NSDAP-Parteibuch

 

Der Erste Weltkrieg trifft ihn schwer: Scharff verliert seinen Bruder und wird selbst schwer verwundet. Davon erholt, stürzt er sich wieder in die Arbeit. Zugleich wird er zum Vizevorsitzenden der MNS und setzt sich nach dem Krieg in der kurzlebigen Räterepublik für Reformen der Akademieausbildung ein. Als inzwischen renommierter Künstler zieht er 1923 gemeinsam mit seiner jüdischstämmigen Frau Helene Ritscher nach Berlin, um seine Professoren-Stelle anzutreten.

 

Die nächsten Jahre sind Scharffs produktivste und erfolgreichste Zeit. Seiner Karriere bereitet jedoch die NS-Machtübernahme ein jähes Ende: 1931 noch in die Berliner Akademie der Künste aufgenommen, wird der Bildhauer nun als „Judenfreund“ geschmäht und nach Düsseldorf zwangsversetzt. Im Mai 1933 tritt er in die NSDAP ein – ein offenbar opportunistischer Schritt, der ihm wenig hilft: Seine Werke gelten als „entartete Kunst“ und werden teilweise zerstört, er selbst 1938 aus der Partei ausgeschlossen. Im selben Jahr verliert er sein Lehramt in Düsseldorf; 1940 folgt obendrein ein absolutes Arbeitsverbot.

 

Verschieden gestaltete Lieblingsmotive

 

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wird er 1946 an die Landeskunstschule in Hamburg berufen, wo er die neun Jahre bis zu seinem Lebensende 1955 unterrichtet. Währenddessen modelliert er Großplastiken für die Neugestaltung des Jungfernstiegs, aber auch Porträts oder kleinere Arbeiten wie die „Hockenden Frauen“ von 1949; sie sind im Seitz Museum zu sehen.

 

Eine klare Entwicklung lassen die Exponate schon wegen ihrer geringen Zahl nicht erkennen. Was sich aber abzeichnet: Scharff bleibt der figürlichen Plastik ebenso treu wie seinen Lieblingsmotiven – Porträts, Akte, Badende, Liebespaare und Pferde. Die gestaltet er allerdings ganz unterschiedlich. Das Gemälde „Pferde und Reiter“ von 1917 ist eindeutig kubistisch inspiriert. Einige Pferde-Lithographien fangen vor allem die Bewegungen der Tiere fast schon abstrakt ein.

 

Dialog mit Werken von Gustav Seitz

 

Damit kontrastiert die glatte Bronzeplastik eines „Reiters“ von 1949: Er sitzt auf einem völlig statischen Pferd, lehnt sich zum Betrachter gewendet zurück und blickt seltsam gedankenverloren in die Ferne. Nachdenklich schaut auch der alte Emil Nolde auf dem Bildnis drein, das etwa zur selben Zeit entsteht. Viel weniger stilisiert, diffuser und zugleich lebensnaher als bei früheren Porträts bringt Scharff die ambivalenten Charakterzüge des Künstlerfreunds zum Ausdruck.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung   "«Entartete Kunst»: Der Berliner Skulpturenfund von 2010" in München, Würzburg + Halle/Saale mit Werken von Edwin Scharff

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Die erste Generation: Bildhauerinnen der Berliner Moderne" – gute Überblicksschau im Georg-Kolbe-Museum, Berlin

 

und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Käthe Kollwitz – „Aber Kunst ist es doch“" – neue Präsentation im Käthe Kollwitz Museum, Berlin

 

und hier einen Bericht über die Ausstellung "William Wauer und der Berliner Kubismus" – beeindruckende Skulpturen-Schau in Berlin und im Edwin-Scharff-Museum, Neu-Ulm.

 

Ein zusätzlicher Reiz der Ausstellung ist der Dialog mit Werken von Gustav Seitz (1906-1969), dessen Lebenswerk das Museum gewidmet ist: Es beherbergt seinen Nachlass und zeigt regelmäßig Sonderausstellungen mit figürlicher Plastik. Seitz‘ voluminösen Frauenfiguren sind im ehemaligen Waschhaus zu sehen; im Haupthaus werden auch Arbeiten beider Bildhauer direkt einander gegenüber gestellt.

 

Biographische Parallelen

 

Zum Beispiel die Reliefs von Liebespaaren: Während sich bei Scharffs Werk von 1922 nur eine innige Umarmung in der amorph bearbeiteten Bronze abzeichnet, legt Seitz mit prallen Formen den Akzent ganz auf körperliche Sinnesfreuden. Interessant auch die beiden Büsten des Schriftstellers Heinrich Mann, die im Abstand von etwa 30 Jahren entstanden sind: Im Vergleich mit den pointierten, scharf konturierten Zügen des Porträts von Scharff aus dem Jahr 1920 ist beim Kopf von Seitz alles Kantige und Spöttische einer leicht resignierten Weltsicht gewichen.

 

Das Gastspiel von Edwin Scharff im Seitz-Museum begründet sich durch biographische Parallelen; indes ist fraglich, ob sich beide persönlich kannten. Doch Seitz studierte ab 1925 an der Kunsthochschule in Berlin, an der Scharff lehrte. 1958 wurde er Scharffs Nachfolger als Leiter der Bildhauerklasse an der Hamburger Kunsthochschule.

 

In ihrem Stil stehen beide in der Tradition moderner französischer Bildhauer wie Auguste Rodin und Aristide Maillol. Wobei sich Seitz weiter von diesen Vorbildern entfernte und eine freiere, spielerische Formensprache entwickelte. Doch Scharffs zeitlos ausdrucksstarke und handwerklich perfekte Arbeiten können daneben durchaus bestehen.