Das städtische Kunstmuseum von Stuttgart ist ein prächtiger Kubus aus Glas und Stahl. Darin empfängt die Besucher derzeit klösterliche Stille und der Geruch von Bienenwachs – eine Werkschau des schwäbischen Bildhauers Wolfgang Laib. Er wird im Ausland wesentlich mehr geschätzt als hierzulande, vor allem in Korea und Japan; dort erhielt er 2015 den „Praemium Imperiale“ für Skulptur, der als Nobelpreis der Künste gilt.
Info
Wolfgang Laib:
The Beginning of Something Else
17.06.2023 - 15.11.2023
täglich außer montags 10 bis 17 Uhr,
freitags bis 20 Uhr
im Kunstmuseum Stuttgart, Kleiner Schlossplatz 1
Lesebuch zur Ausstellung 37,- €
Weitere Informationen zur Ausstellung
Brâncuși + Malewitsch als Übergötter
Laib wurde 1950 im schwäbischen Metzingen geboren und wuchs in einer Familie mit geistig-musischen Interessen auf: Der Bildhauer Constantin Brâncuși und Suprematismus-Erfinder Kasimir Malewitsch galten im kunstsinnigen Elternhaus nach seinen Worten als „Übergötter“. Ein Freund der Familie brachte ihm zudem fernöstliche Kultur und Philosophie nahe. Nach seinem Medizinstudium in Tübingen wandte er sich der bildenden Kunst zu.
Feature zur Ausstellung. © Kunstmuseum Stuttgart
Zikkurate zwischen 10.000 Reis-Häufchen
1976 trug er seinen ersten „Milchstein“ – eine Marmorplatte mit flacher Mulde, gefüllt mit Milch – zum Düsseldorfer Galeristen Konrad Fischer. Der nahm Laib sofort unter Vertrag, und die „Milchsteine“ wurden zur Visitenkarte des jungen Künstlers. Später kamen Teppiche aus Blütenstaub hinzu, Arbeiten mit Reis und archaische Bienenwachs-Häuschen; sie fanden weltweit Beachtung. An solchen Materialien und Themen hält Laib bis heute unerschütterlich fest, wie die Ausstellung auf drei Stockwerken dokumentiert.
Der Rundgang beginnt im dritten Stock und verläuft von oben nach unten. Schon im ersten Raum wird Laibs Nähe zu fernöstlicher Religiosität augenfällig. Der ganze Saalboden ist bedeckt mit rund 10.000 kleinen Reis-Häufchen, jeweils einer Handvoll; in diesem „Reisfeld“ stehen drei hölzerne, rot lackierte Zikkurat-Stufenpyramiden. Reis gilt in Ostasien als Opfergabe an Götter; das weiß Laib seit seinen Sanskrit-Studien und zahllosen Reisen. Solch ein Reisteppich ist aber auch eine Zen-Übung im Weben ohne Kette und Schuss.
Von Türmen des Schweigens inspiriert
Eine Etage tiefer hängt der Geruch von Bienenwachs und Zimt in der Luft. Inspiriert durch die „Türme des Schweigens“, auf denen Zoroastrier ihre Toten den Geiern preisgeben, und antike Grabarchitektur in Mesopotamien sind hier 27 wächserne Kleinbauwerke zur „Stadt des Schweigens“ versammelt.
Am Bienen-Kosmos interessiert Laib neben Wachs auch der Ausgangsstoff von Honig: Seit Jahrzehnten sammelt er Blütenpollen, die er von Löwenzahn und Butterblumen, von Haselnusssträuchern und Kiefern abstreift. Ein hellgelber Teppich aus Kiefernpollen ist auch das zentrale Exponat dieser Schau, im ersten Stock vom Künstler in Handarbeit hingesiebt.
Einziger Pollensammel-Künstler
In einer Ecke stehen vier Gläser mit Blütenpollen; zweimal Kiefer, je einmal Hahnenfuß und Löwenzahn. Dazu ein Glas mit Sporen von Moos, alles gesammelt von 1985 bis 1987. Unverblümt spricht der Künstler vom „männlichen Samen“, den er von den Wiesen ernte. Lächelnd verkündet er im Begleitfilm zur Ausstellung sein Verständnis von Kunst: etwas zu tun, was noch niemand gemacht habe. Und mit dem gleichen Lächeln staunt er, während er auf einer Wiese Löwenzahn-Pollen abstreift, dass niemand außer ihm Pollen sammele. Dass Blütenpollen seit jeher zur Pflanzenzüchtung verwendet wird, bleibt außen vor.
Nahrungs-Lagerhallen oder Sarkophage
Im ersten Stock liegt einer der marmornen Milchsteine, mit denen Laib im Kunstbetrieb Fuß fasste. Das sehr flache Exemplar von 1993 wird jeden Sonntag um 11 Uhr mit Milch befüllt – letztmals am 5. November. Als steingewordene Pathosformel des Religiösen verstanden, verweist diese Arbeit auf Blutaltäre, Trankopfer, Weihwasser- und Taufbecken. Flankiert wird der Milchstein durch vier Wachsboote auf hölzernem Podest.
„Nicht hier“ heißt dieses Werk von 1993, ein anderer Name lautet „You will go somewhere else“. Die Flüsse der Unterwelt darf man sich dazu denken. Laib selbst bezieht seine Wachsboote auf konkrete Erfahrungen, die er in Myanmar gemacht hat. Gegenüber stehen sieben längliche „Reishäuser“, zwei bis drei Handbreit hoch und gefertigt zwischen 1984 und 2001 aus Marmor, Holz und Aluminium. Manche sehen darin symbolische Lagerhallen für zeitlose Nahrung, andere Sarkophage mit Reisopfern für die Geister von Verstorbenen. Der Künstler schweigt dazu freundlich: Das Deuten bleibe Sache der Betrachter.
Lesebuch passt zu Schwabenland
Im Zentrum dieses Stockwerks liegt der „Blütenstaub“, wie Laib selbst seine Pollenteppiche nennt, auf Augenhöhe. Er fasziniert nicht minder als bei der Draufsicht; das zeigt sich am langen Verweilen der Besucher. Oft wird für die Wirkung von Laibs Werken das Prädikat „heilsam“ verwendet. Das passt zu seiner Selbstauskunft, er habe seine Profession nie geändert und sei Arzt geblieben, wolle aber den ganzen Menschen heilen, nicht nur den Körper.
Hintergrund
Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Inventing Nature. Pflanzen in der Kunst" – facettenreiche Themenschau mit Werken von Wolfgang Laib in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe
und hier eine Besprechung des Films "Leaning into the Wind – Andy Goldsworthy" – Porträt des Land Art-Künstlers von Thomas Riedelsheimer
und hier eine Kritik des Films "Breathing Earth – Susumu Shingus Traum" – Doku über den japanischen Land-Art-Künstler von Thomas Riedelsheimer
und hier einen Beitrag über die Ausstellung "Buddha - 232 Meisterwerke buddhistischer Kunst" – hervorragende Überblicks-Schau in der Völklinger Hütte
und hier einen Bericht über die Ausstellung "Richard Long: Berlin Circle & Land Art" – große Werkschau im Hamburger Bahnhof, Berlin.
Wiedersehen mit der Land Art
Das Kunstmuseum beherbergt schon seit seiner Eröffnung 2005 im Untergeschoss einen betretbaren „Wachsraum“ des Künstlers: Ein schmaler, gekrümmter Gang ist ringsum mit Bienenwachs-Tafeln ausgekleidet. Auch die meisten Exponate der Werkschau stammen entweder aus hauseigenem Bestand oder aus der Privatsammlung des Künstlers. Auf diese Weise wird nun einem breiten Publikum eine Strömung vorgeführt, die im heutigen Kunstbetrieb nur noch wenig Beachtung findet: Land Art.
Um 1970 parallel zu Minimalismus und Konzeptkunst entstanden, spielte sie bis Ende des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Dass ihr Stern danach sank, hatte vor allem schnöde finanzielle Gründe. Der boomende Kunstmarkt verlangte nach rasch kommerzialisierbarer Ware – und Werke aus natürlichen Stoffen in freier Landschaft sind naturgemäß schwer verkäuflich.
Mit Leisem einen Nerv treffen
Laib zeigt, dass Land Art auch anders geht. Ohne sich sonderlich um öffentliche Präsenz zu bemühen, wird er seit Jahrzehnten von namhaften Galerien vertreten. Medienecho und Publikumszuspruch zur Stuttgarter Retrospektive zeigen: Seine schlichten, leisen Arbeiten aus simplem Material, aber mit spirituellem Anspruch treffen im heutigen Kunstbetrieb, in dem derlei rar geworden ist, einen Nerv.