München

Turner: Three Horizons

Joseph Mallord William Turner (1775-1851): Grenoble vom Fluss Drac aus gesehen mit dem Mont Blanc in der Ferne, ca. 1802. © Foto Tate. Fotoquelle: Lenbachhaus, München
Best of Tate Gallery: Aus der weltgrößten Sammlung von Bildern des besten britischen Landschaftsmalers zeigt das Lenbachhaus eine Auswahl. Seltsam zusammengestellt: wenige Meisterwerke, viel Unfertiges und eine textlastige Tour de Force durch die Rezeption. Diese Schau ersetzt keine London-Reise.

Do ut des: Dem Prinzip der Gegengabe verdankt München seine spektakulärste Starkünstler-Ausstellung seit langem. Die Städtische Galerie im Lenbachhaus verfügt dank einer Schenkung von Gabriele Münter über die weltgrößte Sammlung des „Blauen Reiters“. Die Londoner Tate Gallery besitzt die umfangreichste Kollektion des Ausnahmemalers John Mallord William Turner (1775-1851); er hatte seinen Nachlass der britischen Nation vermacht.

 

Info

 

Turner: Three Horizons

 

28.10.2023 - 10.03.2024

 

täglich außer montags 10 bis 18 Uhr,

donnerstags + freitags bis 20 Uhr

in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus/Kunstbau,
Luisenstraße 33, München

 

Lesebuch 22 €

 

Weitere Informationen zur Ausstellung

 

Also vereinbarte man ein Tauschgeschäft: Eine Auswahl von Turners Arbeiten ist seit Oktober in München zu sehen, ab April wird eine Expressionisten-Ausstellung in London gezeigt. Für das Lenbachhaus ein Glücksfall: Da der bedeutendste britische Künstler des 19. Jahrhunderts in hiesigen Museen kaum vertreten ist, rechnet die Galerie mit bis zu einer Viertelmillion Schaulustiger.

 

Links Schau-Bilder, rechts keine

 

Um den Ansturm zu bewältigen, wird die Werkschau im langen, luftigen Kunstbau unter dem Königsplatz präsentiert. Nach einem scheinbar stringenten Schema: Auf der linken Seite sind Gemälde aufgereiht, die Turner in der Jahresausstellungen der Royal Academy zeigte, an denen er ab 1796 bis an sein Lebensende teilnahm. Auf der rechten Seite sind Bilder zu sehen, die er nie ausgestellt hat – weil sie unfertig waren oder aus seiner Sicht die Betrachter überfordert hätten.

Feature zur Ausstellung. © Lenbachhaus, München


 

Meta-Ausstellung für Kunsthistoriker

 

Dazwischen werden Grafiken und Nebenwerke ausgebreitet; fast alle der rund 80 Exponate, darunter 40 Gemälde, sind Leihgaben der Tate. Schließlich geht es in der nur über eine Treppe zu erreichenden Rotunde um Turners Nachwirkung – auf Papierbahnen voller Textmassen. Diese Anordnung scheint die Orientierung zu erleichtern. Doch bei näherem Hinsehen erweist sich, dass es der Ausstellung an einem schlüssigen Konzept mangelt.

 

Die Schau „Turner – Monet – Twombly: Later Paintings“ 2012 in Stuttgart verglich Turner mit zwei ähnlich arbeitenden Künstlern; das führte zu erhellenden Einsichten. „Turner – Horror and Delight“ 2019/20 in Münster war eine schlicht chronologische, aber anschauliche Retrospektive. Den Lenbachhaus-Kuratoren schwebt jedoch quasi eine Meta-Ausstellung vor: Neben dem Werk selbst breitet sie zugleich dessen Rezeption in 200 Jahren aus. Das mag Kunsthistoriker ansprechen; an den Bedürfnissen des breiten Publikums geht es vorbei.

 

Erst Historien-, dann Landschaftsmaler

 

Ohnehin ist Turner schwer zu fassen: Einerseits blieb er seiner Begeisterung für Naturerscheinungen zeitlebens treu, andererseits veränderte er seine Malweise im Lauf der Zeit radikal. Als Wunderkind – mit 14 Jahren wurde er jüngster Student an der Akademie-Kunsthochschule, zwölf Jahre später zum Vollmitglied der Royal Academy gewählt – pflegte er anfangs eine gediegene Historienmalerei in dunklen Tönen; sie galt als besonders prestigeträchtig.

 

In den Folgejahren konzentrierte er sich während ausgedehnter Reisen auf Landschaftsmalerei. Die genoss weniger Renommee, aber Turner entlockte ihr bislang ungekannte Facetten. Seine Farbpalette hellte sich auf, seine Motive wurden immer ungewöhnlicher und dramatischer. Nach den Napoleonischen Kriegen studierte er bei monatelangen Auslandsaufenthalten nicht nur die Alten Meister in den großen Kontinental-Sammlungen, sondern auch Licht und Atmosphäre im Süden.

 

Ruskin hielt alten Turner für verrückt

 

In den 1820/30er Jahren löste sich seine Malerei zusehends von der Welt der Objekte. Sie verblassten zu Schemen, die Turner mit Schraffuren und Wirbeln in unzähligen Farbnuancen widergab. Das Echo war geteilt. Vielen Betrachtern ging das zu weit; andere erfreuten sich an der subtilen Darstellung optischer Phänomene. Besonders gut ist dieser Prozess an seinen Venedig-Bildern ablesbar, mit denen er großen Erfolg hatte. Anfangs bildete Turner die Architektur der Lagunenstadt noch getreulich ab; später löste er ihre Formen immer mehr in schillernde Lichtreflexe auf dem Wasser auf.

 

Mitte der 1840er Jahre trieb Turner die Entdinglichung seiner Malerei noch weiter voran – so weit, dass selbst der ihm gewogene Kunsthistoriker John Ruskin wähnte, um 1845 habe Turner den Verstand verloren. Kein Wunder: Fortan erscheinen viele Leinwände gnadenlos überbelichtet – überzogen von pastosen Schichten aus Weißtönen, zwischen denen formlose Farbschleier wabern. Die Qualität dieses Spätwerks ist bis heute umstritten; seine Fans feiern es als Impressionismus oder Abstrakten Expressionismus avant la lettre.

 

Schneesturm aus Seifenlauge

 

Ein Werk, das mit kleinteiliger Schlachtenmalerei beginnt und mit Explosionen aus Helligkeit endet – müsste man seine Entwicklung nicht Schritt für Schritt aufzeigen, um sie nachvollziehbar zu machen? Dafür hat die Ausstellung keine Zeit: Auf der linken, „öffentlichen“ Seite setzt sie mit wuchtigen Ölschinken wie „Die zehnte ägyptische Plage“ (1802) ein, springt dann flugs zu eye-catcher Landschaftsmalerei wie „Niedergang einer Lawine in Graubünden“ (1810), um ebenso rasch Turners zunehmend abstrahierende Malweise zu demonstrieren.

 

Etwa am Beispiel des berühmten Meisterwerks „Schneesturm – Ein Dampfschiff im flachen Wasser gibt Leuchtsignale ab. Der Autor war in diesem Sturm in der Nacht, als die Ariel Harwich verließ“ von 1842. Vermutlich stimmt diese Behauptung nicht, doch mit dem überlangen Bildtitel wollte Turner seine Kritiker widerlegen: Sie hatten ihm unterstellt, er habe diesen ekstatischen Mahlstrom aus Grautönen mit „Seifenlauge und Tünche“ hingepfuscht.

 

Zweitrangiges auf „privater“ Seite

 

Den Raum, den die Schau für zu Lebzeiten ausgestellte Werke eingespart hat, gibt sie auf der rechten, „privaten“ Seite für allerlei Zweitrangiges aus. Warum Turner es im Atelier unter Verschluss hielt, ist offenkundig: Diese Arbeiten wirken meist aufs Geratewohl unvollendet. Für Experten mag ein solcher Blick in die Werkstatt aufschlussreich sein – in einer Retrospektive erscheinen sie fehl am Platz. Da bietet der Tate-Bestand von 300 Gemälden gewiss Ansehnlicheres.

 

Schlicht überflüssig ist die dritte Abteilung in der Rotunde. Keine Frage: Turner hat auf seine Nachfolger einen derartigen Einfluss ausgeübt wie kaum ein anderer Künstler – so fand etwa Lyonel Feininger erst zu seiner Handschrift, nachdem er Turner-Bilder gesehen hatte. Doch dieses Thema lohnt eine eigene Ausstellung mit Bildbeispielen; es nur auf Bannern mit Bleiwüsten abzuhandeln, greift zu kurz.

 

Vorlesungen + Drucke enttäuschten

 

Dieses Manko können auch mehrere hübsch bestückte Kabinette in der Saalmitte nicht ausgleichen. Etwa dasjenige zu Turners Lehrtätigkeit: Drei Jahrzehnte lang war er Akademie-Professor. Für seine Vorlesungen zur Perspektive fertigte er aufwändige Diagramme an. Sie waren so anschaulich, dass ihm seine Zuhörer verziehen, dass er bei seinen Vorträgen kaum verständlich nuschelte und ständig die Sujets wechselte.

 

Hintergrund

 

Lesen Sie hier eine Rezension der Ausstellung "Turner – Horror and Delight" – gelungene Werkschau des britischen Malers des Lichts William Turner im LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster

 

und hier eine Besprechung des Films "Mr. Turner - Meister des Lichts"hervorragendes Biopic über den Maler William Turner von Mike Leigh

 

und hier eine Besprechung der Ausstellung "Turner – Monet – Twombly: Later Paintings" – gute Vergleichs-Schau mit Werken von William Turner in der Staatsgalerie Stuttgart.

 

Auch ein paar Drucke sind reizvoll und erklären Turners europaweiten Ruhm; solche Stiche zirkulierten in hohen Auflagen. Dabei stellten sie Kompositionen meist präziser dar als Turners Vorlagen, eben gestochen scharf, wodurch sie mitunter Enttäuschung hervorriefen. Sahen Kunstfreunde später die Originale, waren sie häufig unangenehm überrascht: Die Bilder waren ihnen zu flüchtig und verwaschen gemalt.

 

Fleißarbeit-Katalog für Kenner

 

Ähnlich enttäuschend ist die magere Auswahl von Aquarellen. Wenn man aus lokalpatriotischen Gründen Turners Ansicht der Walhalla bei Regensburg präsentiert – warum die kleine Aquarell-Skizze, die er 1840 auf der Rückreise von Venedig anfertigte? Und nicht sein großformatiges, prächtiges Ölbild zur Walhalla-Eröffnung, das sich ebenfalls im Tate-Depot befindet? Zumal es 1845 schon einmal in München gewesen ist; als einziges Gemälde, das Turner je zu einer Ausstellung im Ausland geschickt hat?

 

Wer sich dazu Aufschluss vom Katalog erhofft, wird noch mehr enttäuscht. Als „Lesebuch“ betitelt, enthält er auf 340 zweisprachigen Seiten nur historische Stimmen und Kritiken zu Turner, von 1796 bis 1991. Eine Fleißarbeit von und für Kunstgeschichts-Kenner, die Wünsche normaler Besucher souverän ignoriert – es sei denn, sie wollen durch geduldiges Studium zu ersteren werden. Da hilft wenig, dass der Band mit mehr Turner-Bildern illustriert ist als in der Ausstellung hängen: Wer sein Gesamtwerk umfassend kennenlernen will, muss nach London fahren. Die Tate Britain hat dafür einen ganzen Flügel reserviert.